Klaus Brinkbäumer, Jahrgang 1967, kann in seinem Leben auf so einige Erfolge und Segnungen zurückblicken: eine jahrzehntelange erfolgreiche Karriere als Journalist, mehrere Jahre als Chefredakteur des Spiegels und danach als Programmdirektor des MDR, eine erwachsene Tochter aus einer früheren Ehe und einen kleinen Sohn aus der aktuellen Ehe mit Samiha Shafy, mit der er vor einiger Zeit ein Buch über Hundertjährige veröffentlicht hat. Sein Lebensstil ist privilegiert und materiell abgesichert, er pendelt in den im Buch beschriebenen Jahren zwischen New York - wo er mit seiner Familie in einer Wohnung in Manhattan mit toller Aussicht lebt - und Deutschland. Außerdem war ihm das nicht selbstverständliche Glück vergönnt, seine beiden Eltern lange in seinem Leben zu haben und erst in den eigenen 50ern zu verlieren, als beide schon ein hohes Alter erreicht hatten. Doch der Verlust der Eltern, nochmal mehr beider innerhalb der Zeitspanne von wenigen Jahren, ist für jeden Menschen ein existenzieller Einschnitt und oft auch eine tiefe Krise.
In diesem Buch gelingt es dem Autor, den Abschnitt von den beiden sterbenden Eltern in einen größeren Rahmen einzubetten, in "sieben Jahre des Loslassens und Wiederfindens", wie es im Untertitel passend heißt.
Das Buch beginnt mit dem Tod der Mutter und dem Bedauern und Unverständnis des Sohnes darüber, dass der Vater diese alleine über die Schwelle begleitet und seinen Sohn nicht verständigt hat, um sich in den letzten Stunden von der Mutter zu verabschieden, obwohl dies aus Sicht des Sohnes leicht möglich gewesen wäre. Etwas, womit er noch länger zu hadern haben wird im Verlauf des Buches. Darauffolgend wird dann in bruchstückhafter und nicht chronologischer Form von den sieben Jahren der Abschiede erzählt: der Zeitspanne zwischen 2018 und 2024, im Leben des Autors und in der Welt. Dementsprechend beginnen auch viele Absätze nach folgendem Muster: "Es ist der 17. Februar 2019, im zweiten Jahr der Abschiede,..." (S. 19).
Der große Thema des Buches ist natürlich der Abschied von den beiden alten Eltern, zuerst von der Mutter, später vom Vater, doch es geht insgesamt noch um viel mehr: um die Weisheit des mittleren Lebensalters und die reifende Erkenntnis, dass vieles zu Ende geht und nie wieder kommt, dass wir selten wissen, wann etwas zum letzten Mal geschieht, und dass niemand von uns am Ende von Tod, Trauer und Schicksalsschlägen verschont bleiben wird im Leben. Eingebettet ist dieses Thema in die globale Situation und insbesondere in die Zeit der Coronapandemie, die bekanntlich in diese Zeit fiel. Diese Pandemie mit all den damit verbundenen Aspekten ist ebenfalls ein großes Thema in diesem Buch - somit empfehle ich die Lektüre dieses Buches nur jenen, die bereit sind, sich neben dem Thema Trauer und alte Eltern auch mit dieser Zeit noch einmal innerlich auseinanderzusetzen.
Es ist ein stilles, weises, tiefgründiges und nachdenklich machendes Buch eines gereiften Menschen, der in seinem Leben schon einiges erlebt und erfahren hat und nun insbesondere hervorgerufen durch das Sterben und den Tod der alten Eltern die Gelegenheit nutzt, seine Gedanken über Tod und Vergänglichkeit in Worte zu fassen. Ich habe mir während des Lesens einige treffende Zitate notiert, die ich hier teilen möchte:
"Trauer nimmt die Trauernden gefangen und verunsichert die Nichttrauernden, weshalb sie aus deren Sicht gezähmt und überwunden werden sollte." (S. 11)
"Die Erschütterung unserer Welt hatten wir doch gerade noch für ungefähr 2035 erwartet, mit etwas Glück für 2040, das lag an der scheinbaren Langsamkeit der Klimakrise, am scheinbar unzerstörbaren Westen. Unsere Eltern, im Krieg geboren, dann aber die Nachkriegsgeneration und die Generation Wiederaufbau, hatten uns Stabilität garantiert. Und jetzt müssen wir uns von viel zu vielem verabschieden, zu schnell. Geborgene Jahrzehnte enden." (S. 33)
"Dass wir zurückkommen werden, das sagen wir, aber ich musste lange genug leben, ehe ich es verstanden, wirklich verstand, fühlte und wusste: Dinge enden, verstreichen, zerbrechen, und dann sind sie vorbei, und vielleicht kommen neue Dinge, vielleicht aber folgt bloß Leere. Erwachsensein heißt zu verstehen, dass nichts bleibt und nichts wiederkehrt; heißt, mehrere Gefühle zugleich zu erleben, das Glück und die Trauer; heißt, all das zugleich auszuhalten, auszubalancieren und weiterzugehen." (S. 43)
"Die Welt und mein Leben sind voll von Geschichten und Dingen, die niemand jemals hatte kommen sehen. Und doch glaubte ich, das Leben planen und gestalten zu können, glaubten wir das nicht alle?" (S. 51)
"Kein erwachsener Mensch führt ein Leben ohne Brüche und ohne Wendungen, ohne all die Fehlentscheidungen und Zufälle, die uns hierhin lenken und dorthin werfen; manchmal, für die Glücklichen, kommen die Schläge spät, doch sie kommen. Die meisten Menschen möchten sich das eigene Leben als lineare Geschichte des Aufstiegs, der Addition von Wissen, Liebe, Geld und Ruhm erzählen, ich wollte das auch, doch dann kommt die Ahnung, dass das Leben so nicht bleiben wird. Nicht ist. Niemals war. Oder bestenfalls am Anfang, in der Jugend, so gewesen sein wird." (S. 81)
"Vom Land der Gesunden und dem Land der Kranken spricht auch Christopher Hitchens, und irgendwann kommt der Moment der Deportation für jeden. Danach: Sehnsucht nach der einstiegen Heimat und keine Chance auf Rückkehr." (S. 107)
"Es ist ganz egal, es spielt keine Rolle, wer in einem Leben zuletzt angerufen hat, wer der letzte Besucher war, der letzte Freund oder der letzte Gegner, der Abschied ist immer eine einsame Angelegenheit." (S. 124)
Insgesamt ist es ein Buch, das mich persönlich sehr berührt hat und in dem viel Tiefgründigkeit und Weisheit zu finden ist und das ich jenen, die sich mit den Themen Tod, Sterben, Vergänglichkeit und alte Eltern auseinandersetzen möchten, ans Herz legen kann. Ich empfehle, sich für dieses Buch Zeit zu lassen, sich darauf einzulassen, den Worten Raum zum Wirken zu geben und sie, am besten in einem Notizbuch, mit den eigenen Gedanken, Gefühlen und Erfahrungen zu diesen Themen zu verbinden. Danke an den Autor für dieses ehrliche, persönliche Buch!