Besprechung vom 28.10.2022
Lest ihn als Philosophen des Christentums
Hier gilt das klare Entweder-Oder: Ein Band versammelt die Aufsätze von Kurt Flasch aus mehr als fünfzig Jahren zu Meister Eckhart
"Mir ist es gelungen, die Intention Meister Eckharts zu entdecken." Ein reichlich verwegener Satz, den Kurt Flasch da 1968 mit noch nicht ganz vierzig Jahren zu seiner Frau gesagt hat. Umso verwegener, als Flasch ihn mit offenkundiger Verachtung für die Philosophische Fakultät Frankfurt verband, die sich nicht zureichend für die Entdeckung ihres angehenden Privatdozenten interessierte. Den stolzen Satz wiederholt Flasch nun, mittlerweile über neunzig und gar nicht altersmild, sondern immer noch munter, spitz und provozierend, für die Öffentlichkeit. Zwischen beiden Äußerungen liegen fünfzig Jahre eines beeindruckenden Forscherlebens, das beileibe nicht allein Meister Eckhart galt, in dem Flasch aber immer wieder zu ihm zurückkehrte. Seine Denkbewegungen dokumentiert ein Aufsatzband, dem alles Angestaubte abgeht, was solchen Sammlungen sonst anhaften kann.
Eröffnet wird er mit ebenjenem Vortrag zu Eckharts Intention, den die Fakultät damals nicht hören wollte - und der die Eckhartforschung seitdem nachhaltig geprägt und verändert hat. Prägnant hat Flasch darin gezeigt, was in seinen Augen den Kern von Eckharts Bemühen ausmacht und vor allem: was nicht. Eckhart redet in einer Passage seines Johanneskommentars ausdrücklich von der "intentio" aller seiner Schriften. Er wolle den Inhalt des christlichen Glaubens, wie Flasch übersetzt, "aufgrund der natürlichen Beweise der Philosophen" darlegen.
Die Standardausgabe von Eckharts Werken übersetzt zurückhaltender: "mit Hilfe der natürlichen Gründe der Philosophen", und man merkt schon den Unterschied. Man könnte hier einfach eine Variante des im Mittelalter verbreiteten Schemas, in welchem die Philosophie Magd der Theologie war, wiederfinden und täte wohl gut daran. Nicht so Kurt Flasch. Er will nicht das Gängige, sondern das Besondere an Eckhart hervorheben, und das besteht knapp zusammengefasst darin: Eckhart ist Philosoph, genauer: ein "Philosoph des Christentums". Diese positive Bestimmung besagt für Flasch auch und vor allem: Ein Mystiker ist Eckhart nicht. Flasch hielt und hält von dem Mystikbegriff nichts - und wenn man die Volten sieht, die dessen Definition genommen hat, kann man eine gewisse Vorsicht auch nachvollziehen. Zu Recht wendet Flasch sich gegen gefühlige Mystikdeutungen und destruiert gekonnt das nationalpsychologisch irregeleitete Konzept einer "Deutschen Mystik". Angesichts dessen hat er beschlossen, sich lieber auf anderes zu besinnen als auf die Bestimmung des Mystikbegriffs. Ein Bemühen um dessen particula veri sucht man daher in diesem Band vergebens.
Mit solchen Schärfen sticht Flasch aus dem gediegenen Duktus eines Einerseits-andererseits hervor, das manche Forschungsdebatten in pure Langeweile aufzulösen droht. Bei ihm gilt ein klares Entweder-oder bis hin zur, ja ziemlich ungerechten Polemik. Ganze "Nester der irrationalistischen Eckhartdeutung" findet er bei seinen Gegnern. So, wie der Aufklärer Lessing einst seinen tumben orthodoxen Gegner Goeze allein schon durch sein sprachliches Geschick erledigte, führt auch der Lessingpreisträger Flasch die vor, die es noch wagen, trotz seiner Einsichten von Mystik zu sprechen. Sie erscheinen als ebensolche Toren wie jene Fakultät, die Flasch seinerzeit habilitiert hat, der es aber "nicht gelungen (ist), meine Entdeckung zu entdecken".
So vergnüglich die scharfzüngigen Auseinandersetzungen zu lesen sind - sie glänzen durch falsche Alternativen. Flasch ignoriert die Möglichkeit, Mystik gerade auch in ihrem Zusammenhang mit platonischer Philosophie zu lesen und so besser zu verstehen. Er selbst verliert dadurch umgekehrt den Lebenszusammenhang der intellektuellen Bemühungen Meister Eckharts. Der Philosoph, den diese Aufsätze präsentieren, war Dominikaner, er war geistlicher Begleiter und, vor allem, Prediger. Das muss man Flasch nicht eigens ins Stammbuch schreiben - unter der Überschrift "Interpretationen" sind in diesem Band einige sensible Predigtanalysen versammelt. Eckharts Predigt 53 über eine Stelle aus dem Propheten Jeremia aber findet sich darunter nicht. Man wüsste gerne, wie Flasch damit umginge, dass Eckhart auch hier etwas über seine Intention sagt, nämlich darüber, was der Inhalt seiner Predigten ist, wann immer er predigt. Da geht es dann weniger um Philosophie und mehr um "Abgeschiedenheit". Damit kommt man dem religiösen Akteur - anders gesagt: dem frommen Christen - und eben dem Mystiker Eckhart deutlich näher.
Hilfreich ist diese Erkenntnis aber eben nur dann, wenn man nicht wie Flasch in schroffen Alternativen denkt. Auch wer nach wie vor einen gewissen Sinn darin sieht, den Begriff der Mystik auf Eckhart anzuwenden, kann dies nämlich vernünftigerweise gar nicht tun, ohne Flaschs Erkenntnisse aufzunehmen. Diese liegen nicht so sehr in seinen begrifflichen Vorlieben und Abneigungen. Der entscheidende, auch schon früh erkennbare Beitrag Flaschs zur Eckhartforschung besteht vielmehr darin, dass er gezeigt hat, wie stark dieser Philosoph - und Theologe - von seinem Ordensbruder Dietrich von Freiberg beeinflusst war. Flasch hat diesen Denker nahezu dem Vergessen entrissen und um diese Entdeckung herum eine umfangreiche Edition wenig bekannter Philosophen gebaut, auf die er mit berechtigtem Stolz in seiner Vorrede zum jetzigen Buch verweist.
So hat er die Perspektiven der Scholastikforschung, die seit der Neuscholastik des neunzehnten Jahrhunderts von der Gestalt des Thomas von Aquin erdrückt zu werden schien, wesentlich erweitert und vertieft. Das gilt umso mehr, als Flasch damit auch das Fenster dafür geöffnet hat, den Einfluss der arabischen Philosophie auf Meister Eckhart überhaupt erst wahrzunehmen. Diese Zusammenhänge tauchen, mal angedeutet, mal vertieft, in diesem Band auf und machen ihn zu einer Fundgrube für ein angemessenes Verständnis philosophisch belehrter und durchdrungener Mystik.
Wer über Eckhart forscht und diese Aufsätze bislang nicht gelesen hat, hat etwas falsch gemacht. Nun, in einem Buch gesammelt, stellen sie Flaschs Forschungsbeitrag noch einmal klar und mit Wucht vor Augen. Es schadet nicht, sie noch einmal zu lesen. Man kann sich immer noch über manches aufregen. Vor allem aber kann man sich von Flasch immer neu anregen lassen. VOLKER LEPPIN
Kurt Flasch: "Studien zu Meister Eckhart".
Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 2022. 548 S., geb.
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