Besprechung vom 23.06.2025
Wenn es Buddhas gäbe
Die verschwanden, die geblieben sind: Shaw Kuzki erzählt Kindern von der Katastrophe Hiroshimas
"Der 6. August 1945 ist ein vergangener Tag, der nie vorüber sein wird." So lautet ein Schlüsselsatz in Shaw Kuzkis 2013 in Japan erschienenem Roman "Die weiße Laterne". Nie vorüber waren das verzweifelte Warten und Suchen der ersten Generation der Überlebenden, auf und nach Lebenszeichen derer, die im Inferno "verschwanden" oder von denen nicht mehr als Überreste verblieben waren, die sich nicht zuordnen ließen. Nie vorbei waren physische und psychische Folgen und die Diskriminierung auch der Nachfahren der Überlebenden, immer blieben Wunden in der äußerlich wiederaufgebauten Stadt.
An jenem Tag, als allein Zufall oder Schicksal darüber entschied, wer sich im Epizentrum der Explosion aufhielt, wo die Temperatur 4000 Grad betrug, wurden 70.000 Menschen auf einen Schlag vernichtet, wobei die Todeszahl in den Monaten danach weiter anstieg, schließlich auf 140.000. Kuzkis Roman setzt 25 Jahre später an, 1970, mit der jährlichen Zeremonie, bei der Papierlaternen in Gedenken und als Seelengeleit der Angehörigen, mit deren Namen beschriftet, in den Fluss gesetzt und als Lichterflut dem offenen Meer zugetrieben werden.
Die Helden sind Mittelschüler und gehören wie die 1957 selbst in Hiroshima geborene Autorin zur "Hibaku Nisei", der zweiten Generation der Atombombenopfer. Im Rahmen eines Projekts der Kunst-AG ihrer Schule, "Hiroshima, damals und heute", nähern sie sich in Interaktionen und Briefen mit den Verwandten, Nachbarn und Lehrern dem gigantischen, für ein Kinderbuch denkbar schweren Thema an. Individuelle Überlebenserzählungen als Mikrogeschichte Hiroshimas werfen Blicke hinter die Fassaden. So geht die Heldin Nozomi - der Name steht für "Hoffnung" - der Bedeutung einer ominösen unbeschrifteten weißen Laterne nach, die ihre Mutter zu Wasser ließ.
Kuzkis Buch überzeugt in den indirekten Evokationen des Grauens und der Leerstellen verlorener Seelen. So malt der Kunstlehrer im Gedenken an seine im Inferno verlorene Geliebte, von der nur ihr aufgefundener Kamm bestattet werden konnte, mit Vorliebe das Motiv eines Schultors, ohne menschliche Figuren.
Subtil schildert Kuzki die innerlichen Tode der rein körperlich Überlebenden: Da wären die ewige Angst vor dem unsichtbar lauernden Feind, der Strahlenkrankheit, und - weitaus quälender - ihre Schuldgefühle wegen unbedachter letzter Worte oder versäumter Liebesbeweise den so abrupt Verstorbenen gegenüber.
Etwas zaghaft vermittelt die Autorin nicht nur Japans Opferrolle, sondern rückt auch dessen fatalen Ultranationalismus in den Blick. Ihr bedrückendes Buch zeigt Auswege aus dem Teufelskreis von Gewalt, Kriegsverherrlichung und Waffenvernarrtheit, setzt subversive Kreativität gegen die jedes Denken ausschaltende Kriegsmaschinerie.
Shaw Kuzki, die das Werk unter dem Eindruck der Katastrophe von Fukushima und der vermeintlich friedlichen Nutzung der Atomtechnik schrieb, entwirft eine allgemeine Kritik an den Auswüchsen menschlichen Machbarkeitswahns. Den Roman umspielt ein Hauch Gotteszweifel und Buddha-Misstrauen: "Wenn es wirklich Götter oder Buddhas gäbe, wäre so etwas Schreckliches nie geschehen". Er gerät zum Aufruf der Empathie, geronnen in das Bild des leidüberspannenden Himmelszelts, unter dem Mütter aller Völker und Couleur um ihre gefallenen Söhne trauern.
Das Buch enthält kleine Reverenzen an die Tradition der Hiroshima-Literatur und künstlerischer Auseinandersetzung mit dem Atombombenwurf. Eine engelsgleiche Gestalt auf einer Hiroshima-Brücke im Bild eines Mittelschülers erinnert an den metaphorischen "Mann auf der Brücke" von Günther Anders, und das Motiv verzweifelter Resilienz lässt an Keiji Nakazawas Manga "Barfuß durch Hiroshima" denken.
Das dezent didaktische, von Schmerz, Leid und Heilungszuversicht erfüllte Buch endet mit dem Appell, jenen Tag vor bald 80 Jahren und die Dämonie der Waffengewalt ewig zu erinnern. Und an unsere Verpflichtung, "nie wieder eine solche Torheit zuzulassen". STEFFEN GNAM
Shaw Kuzki: "Die weiße Laterne". Roman.
Aus dem Japanischen von Sabine Mangold. Baobab Books, Basel 2025. 136 S., geb., 22,- Euro. Ab 12 J.
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