Meine letzte Begegnung mit Humbert Humbert liegt einundzwanzig Jahre zurück. Jahre, in denen ich versucht habe, Dolores zu sein. Aber ich kann Lolita nicht abschütteln. Andere Menschen haben eine chronische Krankheit, mit der sie sich ein Leben lang abmühen, ich habe Humbert Humbert. Zu den Symptomen zählen Erbrechen, Depressionen, Taubheitsgefühle, Vergesslichkeit, Veränderung der Persönlichkeit.
Leben heißt beschädigt werden. Ich bin eine Invalidin, aber ich habe es doch immer geschafft, all meine Körperteile zusammenzuhalten; zumindest nach außen hin."
Von Vladimir Nabokovs sogenanntem Meisterwerk (darüber darf man sehr gerne unterschiedlicher Meinung sein!) Lolita haben die meisten zumindest schonmal etwas gehört oder es gar gelesen.
Ich fand die Idee von Lea Ruckpaul zugleich gewagt wie auch sehr spannend, hier einen Perspektivwechsel vorzunehmen und die Geschichte aus Sicht des überlebenden Opfers weiter zu schreiben.
"Ich mag nicht länger schweigen, weil dann immer nur die eine Wahrheit in der Welt ist. Die Wahrheit derer, die sich sicher sind, dass sie recht haben. Ich kann keine schlüssigen Erklärungen, keine stimmige Geschichte liefern. Ich bin in meiner Erinnerung unterwegs. Unfähig zu Ordnung und Report. Inkompetent. Ich schäme mich. Es mag daran liegen, dass ich ein Kind war, als wir uns begegneten, und er erwachsen. Es mag daran liegen, dass ich tief verletzt bin, dass ich verrückt geworden bin darüber und dass man Verrückten nicht glaubt. Oder daran, dass man jene für verrückt erklärt, den man nicht glauben will."
Lea Ruckpaul lässt in ihrem Roman Bye Bye Lolita die inzwischen erwachsene, 38jährige Dolores Lolita Haze auf ihre Kindheit zurückblicken. Anhand der Notizbücher von Humbert Humbert nähert sie sich rückwärts ihrer Vergangenheit, tastend, zögerlich, ängstlich und mit dem Ziel herauszufinden, wer sie hätte sein können bzw. wie sie die geworden ist, die sie heute ist.
Den Beginn des Romans fand ich ziemlich stark, wenn auch heftig. Ungeschönt und mit sehr direkten Worten schreibt die Autorin von der missbräuchlichen Beziehung zwischen dem pädophilen Stiefvater und der damals zwölfjährigen Lolita.
"Ich schämte mich. Damals erfuhr ich zum ersten Mal: es sind die Blicke der anderen, die uns zu dem machen, was wir sind. Sie geben uns Form, sie verwandeln uns in eine Elfe oder in ein haariges Monster, und einmal verwandelt, gibt es kein Entkommen."
"Ich versuchte vergebens, mich zu befreien. Ich würde gern wissen, wie es sich anfühlt, körperlich überlegen zu sein. Was für ein Mensch ist man, wenn man in die körperliche Überlegenheit hineingeboren wird, wenn man stärker ist als mindestens fünfzig Prozent seiner Mitmenschen? Wenn man weiß, zur Not schlägt man zu, wirft sich darauf, nimmt sich was man sich wünscht.
In der zweiten Hälfte fand ich den Roman dann leider nicht mehr ganz so stark.
Die Intention, dem Opfer eine Stimme zu geben, konnte leider nicht so umgesetzt werden, wie ich es mir gewünscht hätte. Nach meinem Empfinden ist das Einfühlungsvermögen der Autorin in die Seele eines Missbrauchsopfers nicht überzeugend. Ja, das Missbrauchsopfer erfüllt alle gängigen Klischees; für mich fühlte es sich aber nicht echt an, nicht authentisch.
"Es gibt nur zwei Möglichkeiten, den Blicken der anderen nicht ausgeliefert zu sein. Erstens: verschwinden, sich entziehen. Und zweitens: erfüllen. Die Vorurteile der anderen in vollem Umfang erfüllen. Es ist nötig, seine Rolle gut zu spielen, so wie ein Kind spielt: Mit Ernsthaftigkeit und Lust, aber ohne jemals zu vergessen, dass es spielt."
Die Sprache der Autorin ist modern im Sinne von heftig bis (zu) derb und direkt, was ich anfangs noch okay und passend fand, am Ende fand ich auch das nicht mehr wirklich gut.
Die Idee des Perspektivwechsels ist ja nicht völlig neu und wie gesagt sehr interessant, aber z.B. bei James von Percival Everett (hier kommt der Sklave aus Huckleberry Finn zu Wort und erzählt aus seiner Perspektive) deutlich besser gelungen.
Mein Fazit: Ein interessantes Leseerlebnis, aber leider nicht das Highlight, das ich mir erhofft hatte.