Besprechung vom 01.09.2025
Die Lüge der Utopie
Lilia Hassaines überzeugende Dystopie
Die unschöne neue Welt, die Lilia Hassaine in ihrem dritten Roman "Tödliche Transparenz" (im Original "Panorama", 2023) entwirft, spielt in den Jahren 2049/50. Zwanzig Jahre sind vergangen, seit es in Frankreich zu einer Neuen Revolution kam. Diese mündete in den Umbau zu einer transparenten Gesellschaft. Der Preis ist allerdings eine "Revenge Week", eine Woche der Vergeltung, in der alte Rechnungen beglichen werden. Vergewaltiger, Pädophile, Frauenmörder werden von Opfern oder ihren Angehörigen abgeschlachtet, Selbstjustiz mit Zustimmung der Community und im Namen der Transparenz. Die politische Klasse wird verjagt, die Bewegung "Bürgertransparenz" übernimmt, die Täterinnen kommen mit einer Amnestie davon.
Nun regiert mit der Transparenz ein unerbittlicher Moralismus, man hat nichts zu verbergen, spricht "wertschätzend und respektvoll" miteinander, doch Kinder sind im Alter von sieben Jahren strafmündig. "Wut wird heutzutage nicht gern gesehen." Der Architekt Viktor Jouanet wird zum Baumeister der Revolution, errichtet gläserne Häuser, sogenannte Vivarien, in denen nichts verborgen bleibt. Privatsphäre gibt es nur in Sarkophagbetten, falls es zu sexuellen Aktivitäten kommen sollte.
Soziale Kontrolle versteht sich von selbst, eine Nachbarschaftspatrouille hilft nach, dem Verbrechen wurde der Garaus gemacht. Als die Mauern verschwanden, entstand eine neue Klassengesellschaft: "Die Communitys aus den sozialen Netzwerken haben in der Realität Gestalt angenommen. Unsere virtuellen Freunde, die uns ähnlich sind und unsere Überzeugungen teilen, sind nun unsere Nachbarn. Das Miteinander ist einem Miteinander-unter-sich-Bleiben gewichen."
Neben Paxton, dem Quartier der Neureichen, gibt es sozial gemischtere Viertel und Randzonen mit Häusern aus Stein, die Sicherheitsrisiken darstellen. In Grillons drucken sie sogar noch eine Zeitung, "Das Schwert". Die Polizei ist fast überflüssig geworden: "Seit der Revolution ist es schwierig geworden zu ermitteln. Wir müssen handeln, ohne zu handeln, müssen zu ungewöhnlichen, sogar ungesetzlichen Mitteln greifen, sonst können wir unsere Arbeit nicht machen. Das ist das große Paradox dieses Systems: Die Utopie einer Gesellschaft ohne Geheimnisse zwingt uns zur Lüge." Sagt Hélène Dubern, die sich Sicherheitsbeauftragte nennen muss. Sie und ihr Kollege Nico sollen einen Fall klären, den es eigentlich gar nicht geben dürfte.
Am 17. November 2049 verschwindet die dreiköpfige Familie Royer-Dumas aus ihrer Wohnung in Paxton. Der Tisch gedeckt, ein Blutstropfen im Bad, der Rest ist Leere. Niemand hat etwas bemerkt, wie kann das sein? Hélène Dubern muss ihre alten Polizistinnen-Instinkte reaktivieren, ihr Privatleben ist belastet von einem ehebrecherischen Gemahl und einer pubertierenden Tochter, die das Äußerste gibt, um ihrer Mutter das Leben schwer zu machen.
Die französische Journalistin und Schriftstellerin Lilia Hassaine, Jahrgang 1991, findet für ihre Dystopie einen passgenauen, nüchternen Ton, der glaubwürdig zwischen heutiger Gewissheit und erahnter Zukunft operiert. Die Geschichte hat durchgehend Zug. Auf der klassischen Länge von 250 Seiten fungiert Hélène im Wechsel mit einer auktorialen Erzählstimme als Ich-Erzählerin. Man folgt ihr bereitwillig, weil sie nicht transparent operiert.
Je tiefer sie und Nico im Umfeld des verschwundenen Paares und dessen achtjährigen Sohnes graben, desto undurchsichtiger das Tableau. A priori verdächtig sind Menschen, die analog fotografieren und Gedichte lesen. Und welche Rolle spielt Olga, die finanziell von ihrer Schwester Rose und deren Mann Miguel abhängig war? Sie macht sich verdächtig, weil sie zu schnelle Antworten hat. Nach der Befragung geht sie "mit gesenktem Kopf davon, wie ein Schulmädchen, das eine brillante mündliche Prüfung hingelegt und im letzten Moment den Schluss vergeigt hat".
Der Fall wird eingestellt, bis sieben Monate später zwei Leichen gefunden werden, vergraben auf einem Kinderspielplatz. Letzten Endes exhumieren die Sicherheitsbeauftragten die Wahrheit mit illegalen Methoden, und sie zahlen dafür einen hohen Preis. HANNES HINTERMEIER
Lilia Hassaine: "Tödliche Transparenz". Roman.
Aus dem Französischen von Anne Thomas.
Lenos Verlag, Basel 2025. 249 S., geb.
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