Wir brauchen sprachlichen Wandel für eine gerechtere Gesellschaft. Doch wie kann es gelingen, sich so sensibel und diskriminierungsarm wie möglich ausdrücken?
Lucy Gasser und Anna von Rath schaffen mit ihrem Manifest ein Bewusstsein für die vielen Stolpersteine beim Sprechen. Sie weiten den Blick für die Quellen von Unrecht und Diskriminierung und bieten Reflexionsanstöße und konstruktive Vorschläge, damit wir nicht aufhören, miteinander zu sprechen - ohne Angst davor, uns falsch auszudrücken und unser Gegenüber vor den Kopf zu stoßen.
»Schon seit Jahren beleuchten Anna von Rath und Lucy Gasser gekonnt jeden Aspekt diskriminierungsarmer Sprache. Jetzt gibt es ihre wichtige Arbeit als wunderbares Buch! « Mithu Sanyal
»Für mich ist es das Buch der Stunde, und das längst nicht nur für alle, die mit Sprache arbeiten. « Nicole Seifert
Besprechung vom 05.11.2024
Genderstern für Arbeiterinnenkinder
Lucy Gasser und Anna von Rath zeichnen die Debatte um eine gendergerechte und rassismuskritische Sprache nach. Leider sehr einseitig.
Dass Sprache ein Instrument der Macht ist, wusste niemand besser als die Nationalsozialisten und die Kommunisten. Mit ihrer Sprache bereiteten sie ihre Verbrechen vor und rechtfertigten, was sie politischen Gegnern, Kriegsgefangenen, eroberten Völkern und im Fall der Nationalsozialisten den Juden und anderen "Minderwertigen" antaten. Zu Recht und oft viel zu spät wurde darum nach dem Untergang dieser verbrecherischen Gewaltherrschaften nach und nach auch ihr Vokabular aus dem allgemeinen Sprachgebrauch in Deutschland verbannt.
Dieser Prozess vollzog sich langsam, und er erfasste mit der Zeit auch Redewendungen und Denkfiguren, die nicht eigens etwa von den Nationalsozialisten oder ihren Vordenkern erfunden worden waren, aber mit ihnen in Verbindung standen. Ein Beispiel hierfür ist die Redewendung "bis zur Vergasung". Sie stammt ursprünglich aus der Physik, wurde dann in Zusammenhang mit dem Giftgaskrieg des Ersten Weltkriegs gebraucht und schließlich mit der Vernichtung der Juden in den Gaskammern assoziiert. Sie wurde noch bis in die Neunzigerjahre genutzt, um auszudrücken, dass man eine Tätigkeit bis zum Überdruss und absoluten Ende ausgeführt habe. Wer dachte in diesen Jahren darüber nach, was jemand fühlen musste, der die Vernichtungslager miterlebt hatte? Erst in den letzten Jahrzehnten wuchs die Sensibilität dafür, und die Redewendung ist heute nicht mehr gebräuchlich. Auch harmlosere Wortschöpfungen wie die "Jahresendflügelfigur" verschwanden, mit denen die DDR-Ideologen das Christentum zurückzudrängen versucht hatten.
Vor diesem Hintergrund muss über die modernen Bestrebungen diskutiert werden, die heutige Sprache zu einer "gendergerechten", diskriminierungs- und rassismuskritischen, kolonialismusbewussten, inklusiven und LGBTQ-freundlichen Sprache umzuformen. Denn die vielen, vor allem Wissenschaftlerinnen, die an dieser Umformung arbeiten, verfolgen ähnlich gute Absichten wie die Sprachkritiker der Kriegs- und Nachkriegsjahre - und gehen doch von gänzlich anderen Voraussetzungen aus. Jüngste Veröffentlichung in dieser seit den Siebzigerjahren anschwellenden Publikationsflut ist "Macht Sprache - Ein Manifest für mehr Gerechtigkeit" von Lucy Gasser und Anna von Rath. Die Autorinnen leben in Berlin, haben eine App für diskriminierungskritisches Übersetzen entwickelt und geben ein bilinguales Onlinemagazin heraus. Von Rath arbeitet neben ihren Publikationen als Diversity-Trainerin, Gasser ist Juniorprofessorin für Englische Literatur- und Kulturwissenschaften in Osnabrück.
Sie beklagen in ihrem Vorwort, wie schnell Diskussionen über den Gebrauch von Sprache heutzutage in Streit und Aggressionen enden, und setzen sich in ihrem Buch zum Ziel, zu einer "differenzierteren Diskussionskultur über den Sprachwandel" beizutragen, "damit sich mehr Menschen eingeladen fühlen, sich an ihr zu beteiligen".
Dafür fassen sie im Wesentlichen die Diskussionen der letzten Jahre zusammen und vollziehen sie noch einmal nach: Warum nur eine schwarze Frau das Gedicht von Amanda Gorman übersetzen durfte, das diese 2021 zur Vereidigung von Joe Biden vortrug. Warum man "Schwarz" nicht klein-, sondern großschreiben solle (weil damit eine Positionierung innerhalb der Gesellschaft markiert werde). Warum man als Frau vom generischen Maskulinum nicht mit angesprochen werde (was ein Mann schon aufgrund seiner persönlichen Machtinteressen nicht recht beurteilen kann). Warum von einer zweigeschlechtlichen Nennung Menschen die Existenz abgesprochen werde, "die sich nicht als männlich oder weiblich identifizieren".
Warum überhaupt privilegierte Menschen die Nichtrepräsentanz Nichtprivilegierter nicht als Mangel empfänden - und diesen darum auch nicht beklagten oder den Sprachwandel hin zu einer solchen Repräsentanz sogar aktiv bekämpften. Warum heute nicht mehr von "Rasse", sondern von "Race" gesprochen wird (um damit Rassismus als menschengemachtes und strukturell verankertes Phänomen zu beschreiben). Viel Platz räumen die Autorinnen auch Überlegungen ein, wie man über verletzende Wörter diskutieren könne, ohne diese selbst noch zu nennen, denn das füge den bisherigen Verletzungen stets noch weitere neue hinzu.
Sprachschöpfungen wie "Gäst*innen", "BeHinderung", "Ableismus" kommen ihnen dabei leicht über die Lippen beziehungsweise in die Tastatur. Ihrem Anspruch, auch für ein weniger vorgebildetes Publikum zu schreiben, für "Arbeiter*innenkinder" gar, werden sie so nicht gerecht. Aber es kommt zum Ausdruck, von welchem Punkt aus sie ihr Buch verfassten: Für sie ist der aktiv betriebene Sprachwandel eine Notwendigkeit, um die von vornherein als ungerecht gedachte Gesellschaft zu verändern, und ein Instrument der Selbstermächtigung unterprivilegierter Gruppen.
Gegenargumenten wird wenig und nur oberflächlich Platz eingeräumt. Einige Male nehmen Gasser und von Rath darauf Bezug, dass Gegner die Gender-Is und -sternchen, Doppelpunkte und Glottallaute als unästhetisch und sogar besonders exkludierend kritisieren. Sprache habe sich schon immer gewandelt, heißt es dazu von den Autorinnen lapidar - als Beispiel verweisen sie auf Grimms Märchen -, und dass man sich daran gewöhnen werde. Dass sich hier Sprache nicht langsam und organisch wandelt, dass es auch nicht um Eliminierungen wie nach dem Nationalsozialismus geht, sondern um glatte Neuerfindungen einer relativ kleinen, aber umso dominanteren Gruppe Interessierter, wird von den Autorinnen nicht diskutiert.
Nichtsdestotrotz beschreiben sie den Sprachwandel an vielen Stellen als einen fortwährenden gesellschaftlichen Aushandlungsprozess. Aber das gilt anscheinend nur, wenn man sich schon innerhalb dieses Diskurses befindet. So machen sie zwar an mehreren Stellen erhellend auf den Zusammenhang von Sprache und Macht aufmerksam. Wie beispielsweise die "Entdecker" der "Neuen Welt" durch Nord- und Südamerika zogen und sich schon mittels Benennung und Sprache alles aneigneten, was dort lebte, wuchs und im Boden vorkam, belegt diesen Zusammenhang schlagend. Auch würden Sprachen von Minderheiten in Diktaturen nicht so unerbittlich bekämpft, wenn es nicht wahr wäre, dass Minderheiten mit ihren Sprachen auch selbst untergehen.
Dies bewusst zu machen, ist berechtigt und wichtig. Aber Kritik und Sensibilisierung sind das eine, die Erfindung einer völlig neuen Sprache vom Schreibtisch aus das andere. Wenn man also zu den Gegnern oder Skeptikern eines solchen Umgangs mit Sprache gehört, wird man in "Macht Sprache" wenig neue Gedanken finden - und viele, über die man sich womöglich ärgert. Wenn man sich jedoch mit dem Thema noch nicht näher beschäftigt hat und das jetzt nachholen möchte, bietet es eine gute Zusammenfassung des aktuellen Umformungsstands. SUSANNE KUSICKE
Lucy Gasser / Anna von Rath: Macht Sprache. Ein Manifest für mehr Gerechtigkeit.
Ullstein Verlag, Berlin 2024. 240 S.
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