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Besprechung vom 02.06.2025
Liberalismus unter Druck
Tagungsband der Ludwig-Erhard-Stiftung
Der vorliegende Band gibt die Vorträge und Diskussionen einer zweitägigen Konferenz der Ludwig-Erhard-Stiftung aus dem Jahr 2022 wieder. Tagung und Titel des Bandes erinnern an das Walter-Lippmann-Kolloquium im Jahre 1938 in Paris, als unter dem Eindruck eines damals allgemein erwarteten - und dann um ein Jahr verschobenen - großen Krieges liberale Ökonomen, Sozialtheoretiker und Publizisten zusammenfanden, um die Krise des Liberalismus zu erörtern. Im Unterschied zur Pariser Konferenz war die Berliner Tagung national und versammelte nicht nur Liberale, sondern auch politisch eher links orientierte Theoretiker und Publizisten.
Mit dem früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck, Roland Koch, Stefan Kooths, Gerald Braunberger, Lars Feld, Rainer Klump, Harold James, Renate Köcher, Stefan Kolev und zahlreichen anderen Wissenschaftlern, Politikern und Journalisten war die Tagung hochkarätig besetzt. Das Thema "Liberalismus unter Druck - Soziale Marktwirtschaft noch aktuell?" sollte die "Liberalen aller Parteien" allgemein ansprechen, um eine berühmte Widmung Hayeks abzuwandeln.
Roland Koch griff in seiner Einleitung die Frage auf, welche auch die Liberalen auf der Pariser Konferenz beschäftigt hatte und um die auch die Debattenbeiträge des Bandes kreisten: Inwieweit soll sich angesichts eines umverteilenden und regulierenden Staates, den heutige Liberale im Grundsatz durchaus akzeptieren, eine Gesellschaft in erster Linie über den Staat konstituieren und dort die Lösung für gesellschaftliche Probleme suchen? Übertrifft die Lösungskompetenz einer sich selbst koordinierenden Gesellschaft jene des regulierenden Staates, auch wenn sich erfolgreiche Lösungen einer kognitiven Vorwegnahme entziehen?
In den fünf Sitzungsperioden der Tagung folgten einem Referat jeweils zwei Impulsreferate sowie eine Diskussion, die der Band in voller Länge wiedergibt. So kann man den zweitägigen Diskussionsverlauf, der das gegenwärtige Meinungspanorama zum Liberalismus abbildet, gut nachvollziehen. Den sich als liberal verstehenden Tagungsteilnehmern ging es sowohl um eine selbstkritische Positionsbestimmung als auch um eine Verteidigung des Liberalismus und der darauf begründeten Sozialen Marktwirtschaft. Vorträge und Debattenbeiträge bringen in dem Band beides zum Ausdruck. Eine besondere Rolle spielen ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung, ungleiche Bildungschancen und die klimaschädliche Produktionsweise.
Auch die liberalen Konferenzteilnehmer haben in ihren Diskussionsbeiträgen solche Defizite der gesellschaftlichen Realität aufgegriffen, was die Pariser Konferenz in gewisser Weise spiegelt. Die Schlüsselfrage lautet heute wie damals: Was beweisen solche Unvollkommenheiten überhaupt? Belegen sie auch die mangelnde Fortschrittsfähigkeit einer liberalen Ordnung? Gilt die Differenz zwischen idealer und realer Welt nicht für jede andere Ordnung, und muss diese Differenz nicht auch für aufgerufene alternative Ordnungen in Rechnung gestellt werden? Hier redeten die Diskussionsteilnehmer gelegentlich aneinander vorbei, wenn es die Kritiker der liberalen Ordnung mit einer Defizitauflistung unbewältigter Gegenwartsprobleme bewenden ließen, die Befürworter aber auf mögliche Lösungen innerhalb der liberalen Ordnung verwiesen.
Von einigen Teilnehmern wie etwa Roland Koch wurde dabei auch die Möglichkeit einer Selbsttransformation der liberalen Ordnung zugestanden, was dem Selbstverständnis John Stuart Mills nahekommt. Eindrucksvoll ist in diesem Zusammenhang auch der Blick Joachim Gaucks auf die Erfolge der liberalen Gesellschaft. Anders als im Falle "westlicher" Liberaler schützt ihn seine persönliche, jahrzehntelange Erfahrung mit dem realen Sozialismus vor dem latenten Vorwurf, ein Apologetiker des Status quo zu sein, wenn er die Erfolge der liberalen Ordnung bestaunt.
Der Band wartet mit interessanten Diskussionspassagen auf. So etwa rückt Joachim Gauck die positiven Eindrücke Joachim Starbattys mit russischen Politikern zurück, die er als grundsätzlich gleichgesinnt erkennen möchte. Gauck verweist demgegenüber auf den unbedingten Machtwillen als Systemmerkmal der russischen politischen Kultur und den Willen zur Beherrschung anderer als Teil eines russischen Lebensgefühls. Solche Passagen verdeutlichen exemplarisch, wie sehr westliche Gesellschaften ihre eigenen Normen in einer Weise verinnerlicht haben, dass sie ihre allgemeine Gültigkeit auch für andere politische Kulturen voraussetzen.
Einen erfrischenden Beitrag verfasste Gerald Braunberger, der aus journalistischer Perspektive das Informationsverhalten der jüngeren Generation beschrieb und mögliche Konsequenzen für die liberale Debatten zog. Wenn sich auch liberal argumentierende Ökonomen der sozialen Medien gekonnt bedienten, könnten sie exemplarisch die Anpassungsfähigkeit von Marktwirtschaften sehr viel wirkungsvoller beschreiben als mit deduktiver Markttheorie. Sicherlich hoffen die Herausgeber, dass die lebendige Wiedergabe ihrer Konferenz die konventionelle Buchform des Bandes genügend auflockert, um mit den sozialen Medien noch einmal mitzuhalten. GERHARD WEGNER
Ludwig-Erhard-Stiftung (Hrsg.): Kolloquium Walter Lippmann Reloaded. Liberalismus unter Druck - Soziale Marktwirtschaft noch aktuell? Konferenz anlässlich des 125. Geburtstags von Ludwig Erhard, Berlin University Press, Berlin 2024, 287 Seiten
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