»Martin Deans Roman schildert gekonnt intime biographische Erfahrungen, und er erzählt vom fragwürdigen Umgang mit dem Kolonialismus und dem vermeintlich Fremden inmitten der Gesellschaft. « Felix Münger / Tagesschau SRF
»Deans Recherche fu hrt deutlich vor Augen, was eine «lo chrige» Biographie bedeutet. « Dagmar Brunner / Programmzeitung Basel
»Dean verwebt Familie, Migrationserfahrungen und Kolonialgeschichte zu einem vielschichtigen, subtilen und dabei plastischen Erinnerungstext, der in seinem stillen Sog an W. G. Sebald erinnert. « Martina Läubli / NZZ, Bücher am Sonntag
»Feinsinnig und schlüssig verarbeitet der Autor seinen komplexen autobiografischen Hintergrund zu einem starken literarischen Text, zu einem dringlichen Stück Schweizer (Kolonial-)Geschichte. « Rico Valär / SRF Bestenliste
»Deans Aufzeichnungen sind luzide Proben eines intensiven Nachdenkens über Schwarzsein und Weißsein, über Fremdes und Eigenes, über latenten und manifesten Rassismus, über Kolonialherren und Kolonisierte, über Migration, Flucht und Vertreibung, über Herkunft und Heimat. « Hartmut Buchholz / Badische Zeitung
»Es ist ein Schreiben um viele Leerstellen herum. Man folgt dem Autor gebannt bei seiner Spurensuche zu seinen indischen, karibischen und Schweizer Vorfahren. « Julian Schütt, Aargauer Zeitung
»Ein autobiographischer Roman der anderen Art: Von einer Reise aus dem mütterlichen Aargau zu seinen väterlichen indischen Vorfahren auf Trinidad bringt Dean, in perlender Prosa, ein reicheres Selbst zurück, als es die meisten auf der Suche in der eigenen Innerlichkeit finden. « Andreas Isenschmid
»Dean hält mit traumwandlerischer Sicherheit die Balance zwischen der Wirklichkeit, die er respektiert, und einer Imagination, die er braucht. «
Felix Schneider / Bajour. ch
»Dieses Buch ragt heraus aus der Menge, denn nicht nur erzählt Martin R. Dean eine aufregende Geschichte, die viele Jahrzehnte und zwei Kontinente umfasst, Länder, die gegensätzlicher kaum sein könnten. Er verbindet auch auf sehr elegante Weise Autobiografisches mit karibischer Kolonialgeschichte und Schweizer Dorfleben. Tonfall und Dramaturgie machen die besondere Qualität dieses Romans aus. « Dina Netz / Deutschlandfunk Kultur
»Der Roman des Lebens von Martin R. Dean. « Ursula Scheer / Frankfurter Allgemeine Zeitung
»So entspannt, so wenig larmoyant, so abgeklärt, so plastisch und farbig erzählend, so illusionslos und stellenweise geradezu heiter hat man den 69-jährigen Schriftsteller noch nie gesehen. « Pia Reinacher / Weltwoche
»Martin R. Dean ist mit diesem ehrlichen, sensiblen und berührenden Roman und ich sage bewusst Roman, denn dieser Tatsachenbericht ist durchkomponiert und bestens gearbeitet ein Werk geglückt, das man als exemplarisch sehen kann für die Folgen des Kolonialismus auch für Menschen in der Schweiz. « Michael Luisier / Jury Schweizer Buchpreis 2024
»Das vermeintlich Ferne [rückt] plötzlich nahe. Und das vermeintlich Nahe wird erschreckend fremd: Tabak zum Beispiel oder Schokolade werden vom lässlichen Laster zum Produkt und Sinnbild ausbeuterischer Systeme. « Tiroler Tageszeitung
»Eindru cklich erzählt [Martin R. Dean] von der oftmals schmerzhaften Suche nach seinen Wurzeln. « Regula Tanner / Zeitlupe
Besprechung vom 12.10.2024
Zu Hause im Fremdsein
Martin R. Deans Roman "Tabak und Schokolade"
Von Ursula Scheer
Von Ursula Scheer
Eine junge Mutter flieht, nur mit einem Nachthemd bekleidet und den wenige Monate alten Sohn in den Armen haltend, hinaus in die karibische Nacht: Auf einer Straße von Port au Spain sucht sie Schutz vor ihrem Ehemann. Er wollte eine brennende Zigarette auf der Haut des gemeinsamen Kindes ausdrücken. So endete die Liebe zwischen der Schweizerin und dem Mann aus Trinidad, die in London begann und beide auf seine Heimatinsel führte. Wäre ihr in jener Juninacht des Jahres 1956 schnell Hilfe zuteil geworden, hätte die eigene Haut sie nicht als Fremde ausgewiesen? Eine vorbeifahrende Isländerin hält an, fragt, was geschehen sei, und nimmt die andere Weiße mit auf eine Farm im Regenwald, wo Mutter und Kind Zuflucht finden.
Mit dieser Episode beginnt "Tabak und Schokolade", der Roman des Lebens von Martin R. Dean. Der Schweizer Schriftsteller mit Aargauer Familie mütterlicherseits und trinidadischen Vorfahren indischer Abkunft väterlicherseits hat sich vom Magischen Realismus seines früheren Schaffens entfernt und verschreibt sich der biographischen Selbsterkundung. Wie in der Geschichte von der - im wörtlichen wie übertragenen Sinne - geretteten Haut, sind weniger die eigenen Erinnerungen für seine literarische Spurensuche konstitutiv, sondern teils mühsam geborgene, von ihm imaginativ belebte Erzählungen anderer. Und Bilder.
Ein Album der Mutter mit Fotografien, die aus ihren wenigen Jahren in der damaligen britischen Kolonie stammen, ist beinahe das Einzige, was der Sohn nach ihrem Tod an sich nehmen kann. Es füllt eine Leerstelle: Wie der Philosoph Roland Barthes nach dem Tod der eigenen Mutter in seinem Versuch über die Fotografie abgelichtete Details von persönlichem Belang als Öffnungen in eine verlorene Vergangenheit erkennt, tritt Dean in ihm bislang verschlossene Räume. Denn über das Herkommen des Erzählers, über den verschwundenen Vater, die Zeit in einem von Sklavenwirtschaft gezeichneten Land auf dem Weg in die Unabhängigkeit, wurde in seinem späteren Elternhaus nicht mehr gesprochen. Die Mutter baute in der Schweiz mit einem anderen Mann aus Trinidad ein neues Leben auf. Das Paar bekam weitere Kinder, und die Herkunft des zum Stiefsohn gewordenen Erstgeborenen wurden zum Tabu. Weshalb?
Dean findet seine Antwort, indem er ein Gewebe aus familiärer Ablehnung, unterschwelligem alpenländischen Rassismus und Folgen kolonialer Entwurzelung auftrennt - und neu zusammenfügt. Der schwelende Erbstreit im Hintergrund verleiht dem Ganzen zuweilen die bittere Note einer Abrechnung, doch zuvorderst geht es um die Bergung eines Erbes im umfassenderen, immateriellen und damit grundlegenden Sinn. Ausgehend von der eigenen Biographie, lässt Dean die Geschicke von Generationen Entwurzelter auf drei Kontinenten aufscheinen. Darin, dass er dabei ein sensibles Verständnis für die vielen Nuancen des Fremdheitsgefühls entwickelt, liegt die Qualität seines Buches.
Erst als Waise tritt der Erzähler eine Reise zu den bislang unbekannten Verwandten in der Karibik an, bei denen ihn tatsächlich eine "paradiesischen Ahnung von Heimat" anfliegt. Doch die Verhältnisse sind auf beiden Seiten des Atlantiks kompliziert: In der Schweiz, wo selbst die Rügener Großmutter buchstäblich auf gepackten Koffern saß und "bitter zusammengesparte Eleganz" mit Faible für britishness der Mutter den fehlenden Reichtum ersetzen musste, wuchs das "farbige" Kind in einem Umfeld auf, das es aller scheinbaren Weltoffenheit zum Trotz den exotischen Ursprungsregionen lokal verfeinerter und konsumierter Genussmittel Tabak und Schokolade zuordnete - und einer unausgesprochen angenommenen Primitivität. Die Mutter verliert der Erzähler an einen Nationalisten, der mit allen entsprechenden Klischees ausgestattet ist.
Auf Trinidad sieht Dean sich wiederum mit einem komplexen System sozialer Abgrenzungen nach Ethnie, Hauttönen und Schicht - oder Kaste - konfrontiert. Scham über die Ausbeutung der Vorfahren und Stolz auf ihr Beharrungsvermögen fließen ineinander. Fröhliche Kreolität findet hier nicht statt, vielmehr eine imaginäre Konfrontation mit Gestorbenen wie dem schweizerisch-guyanischen Schriftsteller Edgar Mittelholzer. "Die Vergangenheit, nur die lassen wir in unsere Gegenwart, die ist uns wichtig. Und ihr Maß ist das Erzählen", schreibt Dean an einer Stelle und an einer anderen: "Der Himmel liegt wie ein umgekehrtes Grab über uns." Darunter aber öffnet sich der Raum des Lebens für einen Erzähler, der vermag, sich nun selbst besser zu erklären - und zwei Heimatländer.
Martin R. Dean: "Tabak und Schokolade". Roman.
Atlantis Verlag,
Zürich 2024.
208 S., geb.
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