Besprechung vom 28.04.2025
Freundschaft heißt, dass man aufeinander aufpasst
Martina Wildner begibt sich auf die Tartanbahn
Wie gut, dass Romanfiguren nicht ansatzweise so viel über ihre Schöpfer wissen wie umgekehrt. Schließlich findet Dennis Leichtathletik ohnehin schon öde genug. Wenn er dann noch wüsste, dass Martina Wildners frühere Protagonisten mitunter Wasserspringerinnen und Fußballerinnen waren. Und er? Laufen, Werfen, Springen. Na ja. Doch vielleicht gerade weil die Leichtathletik so viele Disziplinen bündelt, stellt Wildner ihm einen zweiten Hauptcharakter zur Seite: Denn Dennis kann zwar weit werfen, Jay dafür aber umso schneller rennen. Dennis ist zurückhaltend, Jay ein Angeber, Dennis kommt aus gutem Hause, Jay aus kleinen Verhältnissen. Eines aber eint sie: In einen Leichtathletikverein wollten sie nie.
Stattdessen verbringen die beiden Freunde, die nicht nur dieselbe Schule besuchen, sondern auch im selben Haus wohnen, ihre Zeit viel lieber in alten Güterwaggons. Als sie dabei eines Abends ein mysteriöser Mann beobachtet, stellt er sie vor die Wahl: Entweder ruft er die Polizei, oder sie kommen zum Probetraining in seinen Sportverein. Denn beide haben Talent.
Wildner, die für ihren ersten Sportroman vor elf Jahren den Deutschen Jugendliteraturpreis gewann, beweist mit ihrem neuen Buch "Zu schnell für diese Welt" ein weiteres Mal, dass sie weiß, wovon sie schreibt. Detailliert beschreibt sie das Training - vom Lauf-Abc bis zu Lektionen über das Schwung-, Sprung- und Nachziehbein und die Frage, wie man sein Sprungbein überhaupt identifiziert. Am Abendbrottisch lässt sie Dennis' Eltern von berühmten Athleten, historischen Sportunfällen und Dopingskandalen berichten. Dafür verzichtet sie weitgehend auf Umgebungsbeschreibungen, die Sätze sind angenehm kurz, das Erzähltempo schnell. Vielleicht dauert es auch deshalb ein wenig, bis auffällt, dass der Ich-Erzähler Dennis nicht unbedingt im Mittelpunkt steht. Denn Wildner lässt ihn vor allem Jays Geschichte erzählen.
Und der hat es nicht leicht: Mit seiner Mutter und einem ständig in Ärger verwickelten Bruder lebt er in einer kleinen Wohnung im ersten Stock. Das Geld ist knapp, die Stimmung angespannt und Jay oft wütend. Wirklich nett ist er höchstens mal zu Dennis. Der beschützt ihn vor Hausmeistern, Ticketkontrolleuren und nicht zuletzt sich selbst. Danken tut Jay ihm das selten. Und so fragt man sich tatsächlich nach einer Weile: Warum tut Dennis das alles für ihn?
Das Schöne ist, dass Wildner dafür keinen triftigen Grund liefert. Übrig bleibt die schlichte Erkenntnis: Jay ist sein Freund. Und ihm fehlt, was für Dennis selbstverständlich ist: Unterstützung. Denn bei Dennis, oben im achten Stock mit zwei Balkonen, gibt es Mutter und Vater, Abendbrot zur immer gleichen Zeit, offene Ohren und Hilfe.
Also kümmert sich Dennis um Jay, schleppt ihn zum Training, lenkt ihn in die richtigen Bahnen, ohne Druck auszuüben. Behutsam fängt er ihn ein, wenn Jay wieder wegläuft, unterbricht seine laute Träumerei von den deutschen Meisterschaften mit dem Hinweis, dass er sein Trikot falsch herum angezogen hat. Das wirkt nie überheblich, sondern ebenso nüchtern, wie er seine freundschaftliche Verantwortung gegenüber Jay einmal zusammenfasst: "Es gibt Menschen, auf die man aufpassen muss. Jay war eben so einer."
Aus Jay wird - und das gehört zu den großen Stärken des Buches - bis zum Ende kein vollumfassender Sympathieträger. Wildner teilt ihre Figuren nicht in Gut und Böse, sondern verleiht jeder von ihnen Tiefe. Selbst der Erzfeind von Jay und Dennis offenbart zunehmend nette Seiten. Und auch Xenia, das schnellste - und überheblichste - Mädchen im Verein, beweist zunehmend Rückgrat. Leider werden ihre Geschichten nur angedeutet, fast wünscht man sich ein paar Seiten hinzu, um ihnen Raum zu geben. So jedoch bleiben sie etwas unvollständig auf der Strecke.
Vorbei zieht derweil die Haupthandlung: lebendig und hakenschlagend, wenn auch im wesentlichen Verlauf nicht ganz unvorhersehbar. Doch Wildner gelingt es, nah an ihrem Protagonisten zu bleiben. Sukzessive zeigt sie, wie Jays Talent seine sozialen und finanziellen Ressourcen auszureizen droht. Hat er doch viel mehr Hürden zu meistern als andere, um es bis an die Spitze zu schaffen. Wie gut, dass er einen Freund wie Dennis hat. Und eine Schöpferin, die nicht nur ihre Protagonisten, sondern auch ihre Leser zu überzeugen vermag: Leichtathletik ist vieles, nur nicht öde. ANNA NOWACZYK
Martina Wildner: "Zu schnell für diese Welt".
Verlag Beltz & Gelberg, Weinheim 2025. 224 S., geb., 14,- Euro. Ab 11 J.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.