"Die Eintönigkeit der Schule. Die Langeweile zu Hause. Die Ödnis in der Stadt. Überall umgab mich dieses vage, unausgesprochene Gefühl, das mir die Luft abschnürte. Eine Möglichkeit, der Ödnis zu entgehen, war das Dazwischensein. Das Versteckspiel mit Etiketten, Identitäten, Rollen. Eine gute Schülerin, aber befreundet mit den Versagern.Ein Banlieue Mädchen, aber ständig in Paris unterwegs. Eine sich entwickelnde Frau, aber in Jungsklamotten. [...]Dort sein, wo man mich nicht erwartet. Nicht dort sein, wo ich erwartet werde. Nie festgelegt , immer knapp daneben, ein treibendes Boot, das nicht weiß, wo es anlegen soll, das vergeblich dem Gesang der Sirenen folgt, den ich irgendwo in meinem Kopf selbst komponiert habe. [...]Odysseus ist wieder da. Zwischen Abreise und Anreise bin ich im Glauben, der Ödnis zu entfliehen, lediglich mir selbst entflohen."Einen autofiktionalen Roman hat Maryam Madjidi mit "Eine feine Linie" verfasst, der von dem Aufwachsen einer Figur namens Maryam (wie der Name der Autorin) und des Tücken des elitären Bildungssystems erzählt, durch das sie sich als Migrantin mehr schlecht als recht kämpfen muss, denn bereits ihr Wohnort Drancy in Frankreich ist mit Vorurteilen behaftet, da er sich inmitten der Banlieue befindet. Geboren wurde die Autorin im Iran, in Teheran, und als Sechsjährige flüchtete sie gemeinsam mit ihrer Familie zunächst nach Paris. Unsere Ich-Erzählerin Maryam hadert nicht nur mit ihrer Identität und ihrer gesellschaftlichen Rolle als Ausländerin, sondern auch mit ihrem Aussehen. Vor allem ihre Haare bereiten ihr Kopfzerbrechen und sie kämpft mit deren Struktur."Es war eine Qual, der ich mich freiwillig unterzog. Warum? Weil ich 13 war und aussehen wollte wie Brenda in Beverly Hills. Weil ich diese Kanakenwolle verabscheute, die meine ferne Herkunft verriet. Alle Rauheiten, Unebenheiten, jede Art von Rumpeligkeit der Ausländerin, für die dieses Haar der Inbegriff war, wollte ich abschleifen, glätten, polieren."Aber nicht nur das, auch der vermehrte Haarwuchs an Stellen, die sie sich als Frau lieber unbehaart wünscht tritt nun in der Pubertät vermehrt zu Tage."Auf einen Mund wie meinen Lippenstift aufzutragen war völlig undenkbar. Wie würde das aussehen? Wie ein Mann, der sich als Frau ausgibt? Beides zugleich? Wie eine missratene orientalische Androgyne? Dieser Damenbart konterkarierte meine entstehende, noch scheue Weiblichkeit, war ein Hemmschuh für meine sexuelle Entfaltung. Er musste weg. Ich war inzwischen fast 14 und wollte eine Frau sein."Mit der folgenden Rasur entdeckt sie sich selbst ganz neu, erlebt sie als Erweckungserlebnis und sieht sie als eine Art Neugeburt an, die ihre Libido wachsen lässt.Nun kommen wir zu der Passage bzw. dem Umstand, auf den der Romantitel "Eine feine Linie" zurückzuführen ist. "So, wie ich gleichzeitig Französin und Iranerin war, und im Grunde keines von beiden. Dieses Dazwischen, dieser changierende, wabernde, unentschiedene Zustand machte mich verrückt. Ich war 16 und brauchte eine klare Trennlinie."Maryam struggelt mit ihrer eigenen Identität und Kultur, fühlt sich nirgendwo richtig zugehörig und ersehnt sich eine klarere Abgrenzung - aber eine feine Linie ist das, was sie abgrenzt von einer Französin zur Iranerin, denn sie vereint beide Kulturen in sich. Auch gesellschaftlich fällt es ihr schwer sich zu positionieren, bzw. sich mit ihrer sozialen Rolle zu identifizieren und so macht sie ihren Vater in Gesprächen gerne vom Bauarbeiter, der er ist, gerne mal zum prestigeträchtigeren Innenarchitekten und ihre Mutter, eine Pflegehelferin, zur studierten Krankenschwester.Maryam ist besonders intelligent und so darf sie auf eine Schule für speziell Begabte wechseln, allerdings auch nur aufgrund einer Quote, für die sie die Kriterien als Migrantin erfüllt, eigentlich ist diese Art Bildung den finanziell besser gestellten vorbehalten. Dort fühlt sie sich zum ersten Mal angekommen, denn hier verspürt sie Dank feinfühliger Lehrer, die sich ihr annehmen, Lust aufs Lernen und Weiterkommen, trotz ihrer sozialen Herkunft. Noten sieht sie lediglich als Mittel zum Zweck um irgendwann auf die andere Seite der Pariser Ringautobahn zu gelangen und teilt somit freigiebig ihre Lösungen und Hausaufgaben mit anderen Schülern."Ich war eine Robin Hood des Schulwesens. Eine Kommunistin des Wissens. Ich gab großzügig ab, verteilte es an jene, die es nötig hatten."Sie flüchtet sich gerne in Literatur, lebt in ihren Büchern und überträgt die Geschichten in Situationen ihres Lebens."Es war, als wäre ich in Zolas Totschläger oder in Hugos Elenden gelandet. Damals verschlang ich gerade die realistischen und naturalistischen Romane des 19. Jahrhunderts, und dies hier vor mir war die lebendig gewordene Lektüre."Ich könnte noch lange so weiterschreiben, noch viel mehr Zitate in meine Rezension einfügen, denn es gibt in diesem Buch unglaublich viele zitierungswürdige Stellen. Aber nun mache ich Schluss und kann Euch nur raten: Lest es, denn sowohl das Werk, als auch die Autorin haben viel mehr Aufmerksamkeit verdient. Für ihr Debüt "Du springst, ich falle" bekam Maryam Madjidi 2017 den Prix Goncourt für den besten französischen Debütroman - ist klar, dass ich das Buch nun unbedingt lesen muss, oder?! Die Prix Goncourt Gewinner-Bücher haben mich bisher noch nie enttäuscht, ich freue mich drauf