Entzauberte Spione
Bis heute gilt die für Spionage in der Bundesrepublik zuständige Abteilung der DDR-Staatssicherheit, die HVA, als einer der besten Auslandsgeheimdienste seiner Zeit. Von ehemaligen Mitarbeitern wird dieses Bild sorgfältig gepflegt. Unabhängig überprüfen ließ es sich bislang nicht, da fast alle einschlägigen Unterlagen vernichtet wurden. Doch nun muss die Geschichte des deutsch-deutschen Geheimdienstkrieges neu geschrieben werden.
Michael Wala erhielt exklusiven, vollständigen und uneingeschränkten Zugang zum Geheimarchiv der Spionageabwehr des Bundesamts für Verfassungsschutz. Sein Buch legt erstmals offen, mit welchen Methoden der Verfassungsschutz versuchte, DDR-Spione ausfindig zu machen, und welchen Erfolg er dabei hatte. Dabei widerlegt es zahlreiche Mythen.
»Walas Buch ist ein 'must read' nicht nur für alle, die sich für deutsche Geschichte interessieren, sondern auch für alle Geheimdienstinteressierten weltweit. Es widmet sich den tiefsten Geheimnissen des Kalten Krieges, und seine Erkenntnisse sind heute noch so relevant, wie sie es vor 30 Jahren gewesen wären. «
Shlomo Shpiro, Geheimdienstexperte, Bar-Ilan University, Ramat Gan
Besprechung vom 07.10.2023
Mythos Stasi?
Eine Ehrenrettung der westdeutschen Spionageabwehr im Kalten Krieg / Von Markus Wehner, Berlin
Seit den Fünfzigerjahren tobte zwischen der Bundesrepublik und der DDR ein Spionagekrieg. Bonn und Ost-Berlin wollten möglichst viel geheime Informationen der anderen Seite erhalten, deren Agenten und Quellen enttarnen, Überläufer gewinnen, manche als Doppelagenten einsetzen. Bisher wurde die Auslandsspionage der kommunistischen Diktatur, die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) im Ministerium für Staatssicherheit der DDR, als überlegen in diesem Kampf dargestellt. Schließlich beschäftigte sie rund 4500 Mitarbeiter, während die Spionageabwehr des westdeutschen Verfassungsschutzes gerade auf 800 kam. Die HVA konnte sogar den Agenten Günter Guillaume im Kanzleramt installieren, ein Fall, der für den Rücktritt von Willy Brandt als Kanzler eine Rolle spielte.
Die Spionageabwehr des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) erschien bisher als Versager in diesem Kampf, der HVA hingegen wurde nicht selten hohe Professionalität bescheinigt. Veteranen des DDR-Dienstes stellten in ihren Memoiren ihre Agenten als "Kundschafter des Friedens" dar, die aus ideologischer Überzeugung gehandelt hätten. Ihre Akten konnte die HVA nach der Wende zum größten Teil vernichten; der Verfassungsschutz hielt seine Unterlagen unter Verschluss.
Der Historiker Michael Wala von der Ruhr-Universität Bochum, eigentlich Nordamerika-Fachmann, hat nun erstmals Zugang zu den Akten der westdeutschen Spionageabwehr von 1950 bis 1990 im Archiv des BfV bekommen. In seinem Buch "Der Stasi-Mythos. DDR-Auslandsspionage und Verfassungsschutz", das kommende Woche erscheint, wendet er sich gegen die skizzierte Einschätzung. Dem BfV ist es danach immer wieder gelungen, Stasi-Agenten im Westen zu enttarnen. Besonders erfolgreich war dabei die Aktion "Anmeldung", in der es seit Mitte der 1970er-Jahre glückte, hauptamtliche Mitarbeiter der HVA zu entdecken, die mit falschen Pässen in die Bundesrepublik eingereist waren. Dazu sichteten die Verfassungsschützer Hundertausende Meldekarten in den Einwohnermeldeämtern. Die Festnahme von 20 hauptamtlichen Agenten im Juni 1976 führte dazu, dass weitere knapp 40 in die DDR flohen. Die Erfolge bei der Enttarnung, so Wala, hätten die Auslandsspionage der DDR für Jahre praktisch lahmgelegt. Das mag übertrieben sein. Doch bis 1983 konnte das BfV 475 "Illegale" aufdecken, die HVA verzichtete danach auf die Einschleusungen. Unter heutigen Datenschutzbestimmungen wäre allerdings ein solches Vorgehen kaum möglich.
Auch gelang es dem BfV immer wieder, DDR-Agenten zu "überwerben", sie also für den Verfassungsschutz einzusetzen. Zwischen 40 und 140 Agenten und Quellen der HVA wurden jährlich in den 40 Jahren Spionagekrieg abgeworben, insgesamt fast 2000 Personen, die für das BfV als "Countermen" arbeiteten.
War die HVA also nur eine aufgeblähte Behörde, die wenig relevante Informationen beschaffen konnte, wie Wala meint? Das Unheil, das die Stasi anrichtete, war jedenfalls groß. Und der Preis für viele, die für den Westen arbeiteten und enttarnt wurden, war hoch. Vor allem in den Fünfzigerjahren mussten sie mit enorm langen Haftstrafen büßen. Bis in die 1980er-Jahre wurden entdeckte "Countermen" oft erst nach Jahren freigekauft, weil die Gelder der Bundesrepublik dafür begrenzt waren.
Vor allem machten der westdeutschen Spionageabwehr zwei Maulwürfe im BfV einen Strich durch die Rechnung. Klaus Kuron, Fallführer für schwierige Operationen, spionierte ab 1982 bis zur Wende für die Stasi, er wurde bis zuletzt nicht enttarnt. Kuron kassierte von der Stasi 4000 D-Mark monatlich und eine Prämie von 140.000 D-Mark. Er fühlte sich im BfV nicht ausreichend wertgeschätzt, litt unter vermeintlich unfähigen Vorgesetzten - ein häufiges Motiv für Verrat, wie es zuletzt bei Carsten L., dem russischen Spion im BND, bekannt wurde. Aus Angst, dass er auffliegen werde, wollte Kuron 1990 nach Kontakt mit dem KGB in die Sowjetunion fliehen, entschied dann aber, sich dem BfV als Doppelagent anzubieten, und wurde verhaftet. 1985 hatte sich schon der Referatsgruppenleiter Hansjoachim Tiedge in die DDR abgesetzt und sein ganzes Wissen der Stasi preisgegeben; bei ihm liefen die Fäden der Spionageabwehr zusammen. Damit waren alle Operationen des BfV gegen die DDR-Dienste kompromittiert, die Bemühungen der vergangenen Jahre "Makulatur", wie Wala schreibt.
Der Mauerfall weckte in der Spionageabwehr des BfV zunächst Befürchtungen, die Stasi könne bei nun offenen Grenzen nach Belieben schalten und walten. Doch schnell wurde der Verfassungsschutz zum Anlaufpunkt für Dutzende Überläufer aus dem Ministerium für Staatssicherheit. Sie lieferten freiwillig wertvolle Informationen. Manche berichteten ohne oder nur für eine geringe Gegenleistung, andere kassierten 100.000 D-Mark und mehr. Insgesamt ließ das Bundesamt bis 1998 mehr als 1,4 Millionen D-Mark in die Taschen seiner ehemaligen Gegner fließen. Berichtet wurde auch über die Übergabe von Akten an den "Bruderdienst" KGB, auch Quellen wurden offenbar an Moskau übergeben.
Dass die Spionageabwehr der Bundesrepublik in der irrigen Annahme, man sei dauerhaft nur von Freunden umgeben, unter Bundeskanzler Gerhard Schröder so gut wie eingestellt wurde, gehört zu den tragischen Versäumnissen in der Sicherheitspolitik der letzten Jahrzehnte. Die Spionageabwehr sei "das Herzstück" in der Arbeit des Verfassungsschutzes im Kalten Krieg gewesen, sagte nun BfV-Präsident Thomas Haldenwang anlässlich der neuen Studie. Haldenwang schlägt den Bogen zur notwendigen Spionageabwehr in der Gegenwart und spricht von einer Bedrohung für Deutschland durch fremde Mächte, die heute "so vielfältig wie nie" sei.
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