Eine Mutter, die mit verführerischer Sogwirkung schwarzsieht. Ein Vater, der mit Nebelkerzen wirft, wenn er von sich erzählen soll. Und ein vermeintliches Unglückshaus, das es endlich zu verlassen gilt. Miriam Böttgers aberwitziger, tragikomischer und abgründiger Roman für alle, die sich auch mit ihrer Familie herumschlagen.
»Eigentlich ist jede Familie eine Sekte für sich, mit irgendeiner speziellen Idee oder Wahnvorstellung, um die alles kreist«, grübelt die Ich-Erzählerin in Miriam Böttgers Roman. »Oft sind dies naheliegende Dinge wie Genialität der Kinder, Akademikertum, Geld, Fitness, gesellschaftlicher Status. « Manchmal allerdings auch Abwegiges. Die fixe Idee ihrer Familie besteht in der Überzeugung, im Leben immer nur Pech zu haben, in der Annahme einer familiären Unglücksprädisposition. Und die physische Manifestation dieser Idee ist das HAUS der Familie, das auf andere hell und unschuldig wirken mag, das seine Bewohner jedoch, darin sind sie sich einig, jahrzehntelang am Leben gehindert hat.
Als die Eltern beschließen, das HAUS endlich aufzugeben und in eine kleinere Wohnung zu ziehen, müsste dies eigentlich eine Erleichterung sein. Doch kaum verkauft, erscheint der Unglücksmagnet in völlig neuem Licht. Während der Tag des Umzugs näher rückt, werden die Lageberichte des Vaters, die die Tochter täglich telefonisch einholt, immer bizarrer. Und sie begreift, dass es hier um etwas ganz anderes geht als um einen Umzug.
Besprechung vom 19.12.2024
Geboren in eine Sekte
Leise Liebeserklärung: Miriam Böttgers Roman "Aus dem Haus" erzählt von einem Familientrauma
Ohne Familie kommen die großen Romane der Weltliteratur kaum aus, Familie als schicksalhafte Versippung, pathogene Blutlinie, Brutstätte von Katastrophen. Um Familie geht es auch in Miriam Böttgers Romanerstling "Aus dem Haus": "In unserer Familiensekte kreiste alles um das Unglück, immer schon. Die Dinge waren schlimm, mit der Tendenz, sich zu verschlimmern, das war die Ausgangslage, der man stets ins Auge zu sehen hatte." Führend bei dieser Disposition ist die Mutter der Ich-Erzählerin, ihrerseits schon von einer tristen Adoleszenz in der Nachkriegszeit geprägt: ",Ich bin vom Unglück verfolgt, wo ich gehe und stehe', sagte meine Mutter regelmäßig in vollem Ernst, ,und das, seit ich denken kann, vielleicht, nein, wahrscheinlich lastet sogar ein Fluch auf mir.'"
Böttger, die als Journalistin für die Kulturredaktion des ZDF arbeitet, hat in einem Radiointerview keinen Zweifel daran gelassen, dass ihre Erzählung autobiographisch begründet ist. Sie reiht sich damit in das derzeit Konjunktur habende autofiktionale Genre ein, mit der Kautel, dass sich ihr Personal - Vater, Mutter, Tochter samt schräger Verwandtschaft im nahen Umfeld - in den Darstellungen gelegentlich verselbständigt hat. Anlass der Geschichte ist der bevorstehende Auszug der Eltern, über den immerhin fünfzehn Jahre lang gesprochen worden war, aus ihrem Haus in Kassel in eine kleinere Wohnung.
Das unschuldige, freundlich helle, geschmackvoll eingerichtete HAUS - gern in Versalien geschrieben - an sich kann gar nichts für die so entstandene dramatische Zuspitzung der Lage, ebenso wenig wie die Stadt Kassel und ihre Einwohnerschaft, die beide von der Mutter beständig mit wahren Hasstiraden überzogen werden: "Denn nur wenige Wochen, bevor sie endgültig aus dem HAUS ausziehen sollten, auch genannt das ,Scheißhaus' oder die ,Bruchbude' oder - etwas zivilisierter - ,dieses idiotische Unglückshaus', das Haus also, in das wir gezogen waren, als ich bereits vierzehn Jahre alt war, das einzige, das wir selbst ,gebaut' hatten, mein 'Elternhaus' also, (. . .) standen meine Eltern am Rande dessen, was Zeitungen oft mit einer gewissen Nonchalance als ,Familientragödie' bezeichnen."
Die Tochter, damals schon in Berlin, durch regelmäßige Telefonate und gelegentliche Besuche mit den Eltern verbunden, hat sich das Geschehen und seine Begleitumstände nun vom Leib geschrieben. Sie tut das temperamentvoll, gleichsam mit Herzblut. Immer wieder wechselt sie dafür in den einzelnen Kapiteln die Zeitebenen, sodass auch eigene Kindheitserinnerungen einfließen. Sie gehen zurück in das frühere Haus in Weinheim an der Bergstraße, sonnig verklärte Gefilde sind das jetzt, zumal in der Rückschau der Mutter auf eine Phase, in der sie noch nicht ganz so aus ihrem seelischen Häuschen geraten war wie seit dem Umzug nach Kassel, der für den Vater einen beruflichen Aufstieg, zugleich jedoch die Rückkehr in die Heimatstadt, bedeutet. Die zunehmende "Verkasselung" treibt die extravagante, von der Angst vor dem Altern vor sich hergetriebene Mutter tiefer in ihre Zeitpanik, macht sie ungenießbar für soziale Kontakte. Der wenig äußerungsfreudige Vater flüchtet zunehmend in sein eigenes Revier, auch im HAUS, er ist den Ansprüchen seiner Frau nicht gewachsen. Die Gefühlsbombe explodiert angesichts des nun unvermeidlichen Umzugs, weil das Haus einen gut zahlenden Käufer gefunden hat.
Aus der Schilderung der daraus resultierenden traumatischen, keineswegs lustigen Umstände und Geschehnisse, deren ewig unzufriedene "Hohepriesterin des Unglücklichseins" die Mutter ist, hätte Böttger eine bittere Studie über die Tristesse mittelständisch-bürgerlicher Existenz machen können. Doch sie tut das Gegenteil. Den Roman trägt ihr lebensbejahender Humor, der verhindert, dass diese systemische Negativität in die Farce kippt. Immer wieder ufert dabei die Komik zur Suada aus, von deren Grund die Traurigkeit der Autorin aufschimmert, oder schlägt um in wohlformuliert dosierten Sarkasmus, in den sie ihr eigenes, buchstäbliches Mitgenommensein gießt.
So bringen die diversen, grotesken bis grenzwertig pathologischen Begleiterscheinungen des Umzugs der Eltern, eines an sich banalen Vorgangs, zum Lachen und, es sei eingestanden, manchmal fast auch zum Weinen. Denn Miriam Böttger ist keine Verräterin, auch wenn ihr manchmal die Gäule beinah durchgehen. Nicht zuletzt weckt sie die leise Erkenntnis beim Lesen, dass es keineswegs nur "meine Familie" ist, in der solche Konstellationen und Zustände zu Hause sein können. Dass sie am Ende zwischen den Zeilen eine zarte Liebeserklärung an ihren allzeit fast stumm duldenden Vater geschrieben hat, soll nicht unerwähnt bleiben. ROSE-MARIA GROPP
Miriam Böttger: "Aus dem Haus". Roman.
Galiani Berlin, Berlin 2024. 224 S., geb.
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