Platz 1 der SWR Bestenliste
Es beginnt in Berlin, Köln oder Lissabon. Es beginnt im Frühling, mit einem Himmel, der keinen Wolkenfaden zieht. Das Leben kehrt zurück, und damit kehren auch die Erinnerungen zurück an werkelnde Kinder im Keller, an Tau auf Märzenbechern und Margeriten und an Gespenster, die unter der Dusche Monologe halten. Jemand geht durch die verwinkelten Straßen einer Stadt, auf dem Miradouro da Graça spiegelt sich das Licht vom Bahnhof Wuhletal. Warum also pausieren, wenn der Wind einen anhebt wie ein Blatt Papier?
Alles geschieht gleichzeitig: Während man Teppichstange um Teppichstange älter wird, läuten die Glocken der Mater Dolorosa in die Lücke hinein, die der Regen lässt. Man muss sich demnach in die Schlaufe hängen, damit die Kurve einen nicht erledigt. Aber die Toten geben keine Ruhe - mit frisch geschnittenen Fingernägeln fällt es leichter, ihnen zu begegnen. Wie viel Kaffee soll man noch trinken, bevor man die Heizkörper kalt werden lässt? , fragt Nadja Küchenmeister in ihrem Langgedicht Der Große Wagen. Unaufhörlich sickert hier die Vergangenheit in die Gegenwart wie das Wasser des Tejo in den Atlantik, und nur eines lässt sich mit Sicherheit sagen: Gelb wird wichtiger.
»Es ist also auch eine (große) Beschreibung einer Verlusterfahrung und eine Geisterbeschwörung, eine Gespenstererscheinung, die hier lyrisch herbeizitiert wird. [. . .] Ich glaube, das ist eine berückend schöne Form, die sehr offen ist, und, glaube ich, in jedem Leser, in jeder Leserin eigene Kindheitserfahrungen, eigene Verlusterfahrungen evoziert, und das ist nichts Geringes, was eine Lyrikerin im Jahr 2025 leisten kann. « Denis Scheck / SWR Bestenliste Mai 2025 (Platz 1)
»Das Langgedicht in zehn Teilen und der Große Wagen selbst werden eins. Es wird zu einem Fluchtpunkt, in dem alle Sehnsuchtsmomente aufgehoben sind. Der Weg dorthin wird einmal so beschrieben: es reißt dich in die tiefe . Genau das gelingt diesem Gedichtband. « Helmut Böttiger / Deutschlandfunk Kultur Lesart
»Eine unglaubliche Weite kommt allein durch den Titel dieses Bandes in den Text hinein. [ ] Die Zeiten und Orte verschmelzen in gewisser Weise miteinander und es entsteht so ein Strom des Lebens. « Carsten Hueck / Deutschlandfunk Büchermarkt
»In Der Große Wagen geht es nicht nur um ein literaturberühmtes Sternbild, sondern auch um die Frage, wie die Sprache im sich ständig drehenden Erinnerungskreislauf zum Fixstern werden kann. « SWR Kultur
»[Ein] motivisch geschickt verknüpfende[r], schwebende[r] Text, der mühelos die Schauplätze wechselt und dem in seiner eigenen Logik zu folgen ein großes Vergnügen ist. « SWR Kultur
»Immer wieder stellt sich beim Lesen der Verse auch ein geradezu magischer Effekt her. Die Zeit scheint im Feuerwerk der konkreten und genauen Wahrnehmung der beschworenen Erinnerung still zu stehen. « Beate Tröger / WDR
»Hat man Der Große Wagen gelesen, begreift man, dass es das Licht der Sprache selbst ist, das am Leben halten und tragen, das den Eindruck von Ewigkeit und Unsterblichkeit beschwören kann. « Beate Tröger / WDR
» es ist ein ständiges verstolpern von schritt / und schritt , das sich in dieser atemberaubend präzisen Komposition auf leichtfüßige Weise zu einem eindrücklichen Bilderbogen ausspannt. « Christian Metz / Frankfurter Allgemeine Zeitung
»[Man spürt], dass sich hier eine Stimme freizuschreiben versucht. All das Schwarze wird vom weißen Papier aufgesogen, wo sich vor unserem Auge etwas manifestiert, das weit u ber Kunst hinausreicht: eine existenzielle Erschu tterung! « Björn Hayer / Frankfurter Rundschau
»In Der Große Wagen kommen Sprache, Wahrnehmung und Sehnsucht in eine vollkommene Balance, die sich auf die Lektüre-Erfahrung überträgt, die Zeitwahrnehmung verändert. « Beate Tröger / Der Freitag
»Nadja Küchenmeisters Großem Wagen gebührt ein leuchtender Platz am Bücherhimmel. « Cornelia Geißler / Berliner Zeitung
»Das Langgedicht besticht durch die wechselnde Stimmungslage zwischen neugierigem Staunen, gelassenem Flanieren, Trauer und trockenem Humor [ ]. « Cornelia Geißler / Berliner Zeitung
»Ein traurig-schöner, literarisch recht anspruchsvoller Gedichtband, in dem alle Eindru cke beim Lesen mehr und mehr ineinander gleiten. « Dr. Ronald Schneider / Ekz Bibliotheksservice
»Ein schwebender Text [ ]. Küchenmeister überführt die scheinbar banale Erkenntnis des Zeitvergehens in klare, bildreiche Sprache. « Lesering. de
Besprechung vom 03.04.2025
Heftig aus dem Gleichgewicht gekommen in Lissabon
Astronomisch-literarische Weltkunde: Nadja Küchenmeisters Langgedicht "Der Große Wagen"
Auf der Außenseite der internationalen Raumstation ISS: "heidemarie stefanyshyn-piper werkelt / am drehgelenk eines solarmoduls". In den Filmaufnahmen von diesem Moment aus dem Jahr 2008 sieht man klar, wie sich plötzlich der Werkzeugkoffer der genannten Astronautin aus seiner Sicherung löst und in die Weiten des Weltraums entschwebt. Eine winzige Unaufmerksamkeit genügt, um einen Abschied ins Unendliche zu provozieren.
Nadja Küchenmeisters Langgedicht "Der Große Wagen" mündet in diesem all-gegenwärtigen Verlustmoment, der sinnbildlich für all jene Abschiede steht, die diesen Band wie eine nicht enden wollende Finissage durchziehen: "hätte man das für möglich gehalten, alles endet / ohne antwort", dichtet Küchenmeister. Und doch bleibt kaum ein Vers in dieser dicht gewobenen Komposition ohne Antwort.
Poetische Prägnanz entsteht, wenn sich eine möglichst große Fülle auf engstem Raum sammelt. Küchenmeister zielt zum Einen auf die Weite des Raums, um zum anderen synchron eine Poetik der Überlagerung zu initiieren. Auf kleinstem Versraum überblendet sie drei Orte: Berlin (genauer: das Wuhletal), Köln und Lissabon. Das Wuhletal bildet den Ort der Kindheit und den mit diesem verbundenen Abschied von den Eltern. (Einige dieser Szenarien sind schon aus Küchenmeisters Vorgängerband "Im Glasberg" vertraut.) Köln inszeniert sie als einen transitorischen Arbeitsraum, bestimmt unter anderem durch die Ankünfte und (Ab-)Fahrten auf dem Fahrrad, im Zug oder in der Tram. Und Lissabon avanciert zum Ort einer Liebe, die gleichsam auf den Totenstätten der Erdbebenstadt entsteht. "begrabt // die toten und kümmert euch um die lebenden /so geht es, und so geht wieder und wieder" lautet ein refrainartiger Satz der Lissabon-Sequenzen, während der ihrerseits die Liebe aus der Balance gerät. "Wir wissen nicht weiter in lissabon" heißt es, um kurz darauf zu konstatieren: "wir sind in lissabon heftig / aus dem gleichgewicht gekommen, reden // wässrig vor uns hin".
Alle drei Abschiedsorte faltet Küchenmeister so ineinander, wie sie es in einer selbstreflexiven Passage beschreibt: "man faltet die karte zusammen / vorher faltet man sie auseinander / bis sich straßen, flüsse und gebirge // são vicente und das wuhletal, nord / und südpol und die kontinente / nicht mehr unterscheiden lassen". Faltarbeiten setzen Akkuratesse voraus. Überlagerungen entstehen nur, wenn die Verse exakt übereinander liegen. Daher befinden sich in "Der Große Wagen" auf jeder einzelnen Seite exakt acht (reimlose) Dreizeiler. Sie fügen sich Seite für Seite zu einem in sich geschlossenen Bildgedicht. Fünf dieser einseitigen Bilder ergeben ihrerseits einen Zyklus. Die insgesamt zehn Zyklen des Bandes umfassen also exakt fünfzig Bilder und damit 1200 Verse. Aus ihrer Konstellation entsteht der geheimnisvoll anziehende Versschimmer von "Der Große Wagen".
Mitten in diesem Sternbilderglanz inszeniert Küchenmeister ihre eindringlichen Gefühlsstudien, die sie weniger mithilfe einer gewagten Metaphorik als vielmehr mit Hilfe von erzählerischen Miniaturen evoziert: "am liebsten hätte / ich mehr von dem, was man empfindet / wenn man tulpen in die vase stellt, dieses oder jenes gelb." (Und gelb wird im Laufe dieses Bandes wichtiger werden.)
Wenn die grundlegenden Koordinaten des Fühlens und Empfindens wie der Zugehörigkeit zu Orten und Personen zu verschwimmen drohen, so bietet der Blick zum alt- und allbekanten Sternbild Großer Wagen Kontinuität und Orientierung. Ganzjährig prangt er am nördlichen Nachthimmel, von Berlin wie Köln und Lissabon gleichermaßen gut zu erkennen. "Ich sehe den großen wagen", setzt Küchenmeisters Langgedicht ein, um in Lissabon mit den Augen zum Sternbild zurückzukehren: "über dem tejo / aufgespannt der große wagen". Es folgt die Anmerkung: "und die ochsen drehen sich / um den göpel einer drehmaschine / wir sind auf dem weg nach estrela // stadt der toten". Der Große Wagen umkreist als Teil des Sternbilds Großer Bär, den als "Wolkenpelztier" einst schon Ingeborg Bachmann angerufen hat, zweimal innerhalb von 24 Stunden den Polarstern. Seine sieben hellsten Sterne muteten einst die Römer wie Ochsen an, die sich um den Göpel einer Drehmaschine bewegen.
Ein verborgener Geheimtipp ist der Große Wagen unter den Sternbildern sicher nicht. Seine Offensichtlichkeit macht ihn zur Orientierungsmarke, an dem sich unsere Abschiedserfahrungen ausrichten und in ihrer regelmäßigen Wiederkehr ermessen lassen. Lebenserfahrung allein reicht aber nicht aus, um sich dem Phänomen des Abschieds anzunähern. Wissen muss hinzukommen. Wenn etwa mehrfach auf die drei Sterne "alkaid, mizor, aliat" verwiesen wird, die zum Sternbild Großer Wagen gehören, dann erschließt Küchenmeister einen kosmologischen Wissenshorizont, für das, was über die wiederkehrenden Abschiede zu dichten ist.
Der Fortgang der Verluste wiederum droht bei Küchenmeister seinerseits die Balance zu verlieren: "es ist ein ständiges verstolpern von schritt / und schrift", das sich in dieser atemberaubend präzisen Komposition auf leichtfüßige Weise zu einem eindrücklichen Bilderbogen ausspannt. CHRISTIAN METZ
Nadja Küchenmeister: "Der Große Wagen".
Gedicht.
Schöffling Verlag,
Frankfurt am Main 2025. 96 S., geb.
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