Besprechung vom 12.08.2019
Scheitern einer Utopie
Die Geschichte der Neuen Heimat
Die neuen Großsiedlungen der frühen Nachkriegszeit hatten hübsche, putzige Namen: Sie hießen Lübeck-Buntekuh, Hamburg-Mümmelmannsberg, Mannheim-Vogelsang, Stuttgart-Fasanenhof und München-Hasenbergl. Mit Licht, Luft und Sonne, Elektroherden in der Küche und Waschmaschinen im Keller lockten sie am Rand der Städte mit erschwinglichen Mieten in moderne weiße Mammut-Betonburgen. Bauherr war die "Neue Heimat", der größte nichtstaatliche Wohnungsbaukonzern im Europa der Nachkriegszeit. Als Generalunternehmer lieferte das in Hamburg ansässige gemeinnützige Gewerkschaftsunternehmen riesige Komplettangebote aus einer Hand zu niedrigen Preisen.
Zwischen 1950 und 1982 zog die Neue Heimat 460 000 Wohnungen und Eigenheime hoch. Sie linderte damit entscheidend die Wohnraumnot in den zerbombten Städten, wo zusätzlich Millionen Vertriebene und Flüchtlinge beherbergt werden mussten. Für breite Schichten verkörperten die gigantischen Vorstadt-Neubauten mit weißen Fassaden, reihenweise Balkonen und großen Rasenflächen vor den Häusern sichtbar den sozialdemokratischen Traum vom "Besser Leben durch gesundes Wohnen", mit dem der DGB-Konzern bei seinen politischen Freunden in den Rathäusern für seine Aktivitäten warb.
Ein voluminöser Band berichtet jetzt detailliert, materialreich und optisch reizvoll über die wichtigsten Bauten und Projekte der Neuen Heimat. Viele prägten das Erscheinungsbild der jungen Bundesrepublik und überlebten bis heute. Manche sind gemeinsam mit dem schmählich geendeten Konzern in Verruf geraten. Das Buch macht sich für ihre Ehrenrettung stark und auch dafür, die Leistungen der Neuen Heimat in den Nachkriegsjahren "differenzierter und historisch angemessener" zu betrachten. Denn der enorme Wohnungsbau dieses gemeinnützigen Unternehmens habe entscheidend zur Befriedung der Nachkriegsgesellschaft, zur Integration der Flüchtlinge aus dem Osten und ebenso zum Wirtschaftswunder beigetragen. "Der Konzern leistete einen unersetzlichen Beitrag zur staatlichen Sozialpolitik und zur Sozialverträglichkeit des Wirtschaftswunders," sagt Herausgeber Ullrich Schwarz.
Analysiert wird eine riesige Zahl republikweit realisierter Vorhaben des Gewerkschaftskonzerns von Lübeck bis München mit besonderem Gewicht auf Hamburg. Auch lediglich geplante Projekte wie das heute wahnwitzig anmutende Alsterzentrum sind ausführlich dargestellt. Es sollte 700 Meter lang, 300 Meter breit und mit einem Kranz von fünf Wolkenkratzern bis zu 200 Meter hoch werden. Gescheitert ist es am Widerstand der Bewohner von St. Georg, deren Viertel hinter dem Hamburger Hauptbahnhof dafür hätte abgetragen werden müssen. Mit dem Hamburger Stadtentwicklungsprojekt City Ost in Billwerder/Allermöhe für 75 000 Bewohner und der für 80 000 Menschen geplanten Münchner Trabantenstadt Neuperlach wagte sich die Neue Heimat an Größenordnungen, die nur teilweise bewältigt wurden. Nach dem Motto "Wir machen alles" baute sie daneben Kommunal- und Gewerbebauten - von Bädern und Kliniken über Einkaufs-, Kongress- und Sportzentren bis zum Fernsehturm und zur Seilbahn. Hinzu kamen Objekte in europäischen Nachbarländern, wenig später Vorhaben in Afrika, Lateinamerika, Kanada und dem Nahen Osten.
Irgendwann wurde alles zu viel. Bereits in den siebziger Jahren kämpfte der Konzern mit Verlusten, die nach außen weitgehend unbemerkt blieben. Ab 1979 trieb die Gruppe auf die Pleite zu. Anfang der achtziger Jahre kam der skandalträchtige Zusammenbruch. Die Schulden lagen bei 17,1 Milliarden Mark, und die Neue Heimat wurde 1986 für eine symbolische D-Mark abgewickelt. Für das Scheitern wird vor allem der langjährige Vorstandschef Albert Vietor verantwortlich gemacht. Eine Woche nach der Aufdeckung einträglicher Privatgeschäfte wurde er zusammen mit Vorstandskollegen im Februar 1982 fristlos entlassen. Dass der Baukonzern schon weitaus früher ins Trudeln geriet, hatte mit seiner falschen Einschätzung der Entwicklung auf dem deutschen Wohnungsmarkt zu tun.
Denn der auf Wachstum gepolte Konzern baute gegen besseres Wissen bis in die siebziger Jahre seine immer gleichen Wohnsilos und Mega-Siedlungen weiter. Dabei waren diese längst aus der Mode gekommen und ökonomisch nicht mehr tragfähig. Bereits in den sechziger Jahren war Kritik an den Stadtrand-Kolossen laut geworden. In den Trabantenstädten sammelte sich nun oftmals eine einseitige Sozialstruktur einkommensschwacher, arbeitsloser, alleinerziehender und ausländischer Bewohner. Das förderte die Tendenz zu sozialen Brennpunkten und schädigte den Ruf.
Die Voraussetzungen, sich mit dem baulichen Erbe der Neuen Heimat und der damit verbundenen sozialdemokratischen Utopie zu befassen, scheinen heute günstig. Denn wieder fehlen Hunderttausende Wohnungen im Land, und an vielen Stellen ist das Zusammenleben von Alteingesessenen und Neuankömmlingen schwierig. Ob sich die Defizite auf dem heutigen Wohnungsmarkt nach dem Muster der Neuen Heimat beseitigen ließen, scheint eher fraglich. Zumindest viele ihrer einstigen Großraumprojekte dürften in der gegenwärtigen Lage kaum eine Handlungsmaxime sein. Dafür sind die negativen Begleiterscheinungen im Nachhinein zu sehr bewusst. Und wo die Kommunen das nicht selbst bedenken, kommt es immer häufiger zu Bürgerinitiativen, die großflächige Bauvorhaben stoppen wollen.
Die Autoren des Buches meinen dennoch, die Erinnerung an die Neue Heimat habe aktuelle Relevanz und es werde Zeit für "heutige, zeitgemäße sozialdemokratische Utopien". Zumal, so der Historiker Peter Kramper, es heute "weiterhin Platz für Unternehmen gebe, die neben betriebswirtschaftlichen auch gesellschaftspolitische Belange zu ihren strategischen Zielsetzungen zählen."
ULLA FÖLSING
Ullrich Schwarz (Hrsg.): Neue Heimat. Das Gesicht der Bundesrepublik. Bauten und Projekte 1947-1985, Dölling und Galitz Verlag, München und Hamburg 2019, 808 Seiten
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