Ein hoffnungsvoller Roman über die schwierige Zeit des Erwachsenwerdens
Kann die Nacht der Nächte nicht nur eine sein - die letzte? ! Kester ist 17 und gerade mit dem Abitur durch. Als Bester, obwohl er eine Klasse übersprungen hat. Während der Rest seines Jahrgangs das Ende der Schulzeit am Meer feiert, macht er sich auf nach Hamburg. Ziel: ein angesagter Club in der Nähe der Reeperbahn. Als der Türsteher ihn aber abweist, beginnt für Kester ein völlig unerwarteter Trip. Er trifft auf Bruno, einem Mann im eleganten Anzug, der behauptet ein Engel zu sein. Er begegnet einer ganzen Reihe schillernder Nachtgestalten, lernt ihre Sorgen und Nöte, Wünsche und Träume kennen. Und während der Morgen näher und näher rückt, lassen Kester die Gedanken an seine Mitschülerin Blanka nicht los, deren Leben so ganz anders auf der Kippe steht als seins . . .
Der neue Jugendroman des vielfach ausgezeichneten Autors Nils Mohl
Besprechung vom 26.05.2025
Sterben? Jetzt nicht
Nils Mohl über letzte Auswege
Nach drei Seiten stirbt der Protagonist zum ersten Mal. Und auch sonst lässt Nils Mohl keine Zeit vergehen, um zu verdeutlichen: Auf Chronologie oder Verständlichkeit nimmt er hier keine Rücksicht. Wie auch? "Engel der letzten Nacht" erzählt die Geschichte eines Suizidversuchs.
Die folgt ihrer eigenen Struktur. Drei Teile, dreimal dieselbe Nacht, dreimal Kester. Der ist 17 Jahre alt und bekannt vor allem als Klassenbester. Nun aber hat er das Abitur hinter sich. Und jetzt? Bei der Abschlussparty steigert er sich in die Idee einer Nacht der Nächte hinein. Sauber dekliniert Kester durch, warum nach ihr nichts mehr kommen darf. Sonst bestehe ja immer die Chance, dass noch eine intensivere Nacht folgt. Will man eine Nacht der Nächte erleben, müsste man danach sterben, so seine Argumentation. Die trägt er derart nüchtern vor, dass auch sein daraus gefasster Plan nicht überrascht, sondern wirkt wie ein Achselzucken: sterben? Warum nicht.
Gelegenheiten dazu bieten sich ihm in dieser Nacht einige. Und jede von ihnen kündigt sich vorher an: Durch grau eingefärbte Seiten, die wie Kommentare aus dem Off wirken und ein frühzeitiges Ende skizzieren. Begleitet man Kester also gerade noch auf der Reeperbahn - sein Ziel ist der Bunker, ein Klub, der ihm perfekt für seine Nacht der Nächte erscheint -, lösen die durchschimmernden grauen Seiten schon gewisse Unruhe aus, weil sie versprechen: Hier kommt gleich die nächste Weggabelung, der nächste Bruch. Gleichzeitig aber leiten sie auch den nächsten Neuanfang ein, der immer ein wenig weiter ausholt als die vorherige Version, Dialoge wiedergibt, die vorher ausgeblendet wurden, früher anfängt und später aufhört.
So dehnt sich die Nacht immer weiter aus und formt eine Geschichte - nur welche eigentlich? Um das Abenteuer, die Nacht der Nächte, scheint es Kester nicht wirklich zu gehen. Um den Tod auch nicht so recht. Fast ist man geneigt, für den Protagonisten nach seinem Antrieb, seinen Motiven zu suchen. Vielleicht aber geht es genau darum: Um eine Orientierungslosigkeit, die nach außen merkwürdig unemotional erscheint, nach innen jedoch ungeheuer selbstzerstörerisch wirken kann.
Zugleich aber ist es auch die Geschichte von Blanka, einer Schulfreundin von Kester, ohne die sich seine Nacht eigentlich gar nicht erzählen lässt. Blanka trägt ein großes Geheimnis in sich, eines, das sie allein mit Kester teilt. Die beiden sind sich so nah, dass sie fast dieselbe Person sein könnten - oder sind?
Mohls Geschichte verwehrt sich einer eindeutigen Lesart, auch weil es gar nicht unbedingt um die Handlung geht. Im Mittelpunkt stehen all jene Erkenntnisse, die mal subtil, mal großspurig daherkommen, aber nie platt sind. Sie kreisen um das Erwachsenwerden, um die Liebe und die Menschen, für die es sich lohnen könnte weiterzuleben. Geteilt werden sie am Hafen, im Stripklub oder vor der Tankstelle - von Businessfrauen, Soldatinnen und Schauspielern. Jeder von ihnen ist im Kontrast zum Protagonisten gestochen scharf gezeichnet. Was sie eint, ist ihre Einsamkeit und ein Gefühl für das richtige Timing. Denn sie treten immer gerade dann in Erscheinung, wenn Kester in eine Sackgasse geraten ist.
Darüber schwebt - beziehungsweise geht, aber gelegentlich mit Flügeln - ein Schutzengel namens Bruno, den Kester weitgehend widerstandslos als solchen akzeptiert. Bruno will vor allem eines: Wieder Mensch werden. Eine Hommage an Wim Wenders und seinen "Himmel über Berlin"?
Das zumindest wäre eine von vielen Deutungsmöglichkeiten, die Mohl anbietet. Damit beweist der Autor, der im vergangenen Jahr mit dem James Krüss Preis ausgezeichnet wurde, abermals, dass er Weißräume zu nutzen weiß. Seine Erzählung liegt im Nichterzählten. Das ist dieses Mal durchaus gewagt, geht es doch um Suizid, Tod und Perspektivlosigkeit. Dass es gelingt, liegt auch daran, dass die weitläufigen Räume, die Mohl eröffnet, voll mit Auswegen statt verschlossenen Türen sind. Genau das dürfte, unter den vielen klugen Botschaften des Buches, eine der wichtigsten sein: Wenn man will, geht es immer irgendwie weiter. Auf die ersten drei Seiten folgen schließlich noch über 200 weitere. ANNA NOWACZYK
Nils Mohl: "Engel der letzten Nacht". Roman.
Rotfuchs, Frankfurt am Main 2025. 224 S., geb., 17,90 Euro. Ab 14 J.
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