Besprechung vom 21.05.2025
Durch das Reich des Minotaurus
Seismische Linien entlang: Paolo Rumiz fängt die unruhige Topographie Italiens in einer dicht gefügten kulturgeschichtlichen Erzählung ein.
Wer Italien in der Gegenrichtung, vom Süden nach Norden, bereist, sieht das Land anders - und ein anderes Land. Joachim Fest hat es vorgeführt, seine "italienische Reise" beginnt mit der Überfahrt nach Sizilien. Auch Paolo Rumiz dreht die "Grand Tour" um: Nach einer Art Prolog auf Alicudi, der einsamsten Äolischen Insel, wo der Berg brummt und der Wind Harmonika spielt, beginnt seine "Reise durch das unterirdische Italien" auf Pantelleria, das näher an der tunesischen Küste liegt als Lampedusa, doch wegen der häufigen Stürme für Flüchtlinge noch gefährlicher zu erreichen ist.
Keine physische und keine politische, sondern eine "strukturell-kinematische" Karte weist Rumiz den Weg, das Geschenk eines Geologen, das die Vielschichtigkeit und unruhige Topographie des Landes abbildet. Um dessen Geschichte anhand seiner Erdbeben darzustellen, sind die Ruinen von Selinunt, wo vor der Eroberung durch die Karthager um 650 v. Chr. bis zu hunderttausend Menschen lebten, ein emblematischer Ort: Neben Naturkatastrophen hinterließen Kriege, Verwahrlosung, Abbau und Plünderung ihre Spuren. Gibellina, eine Autostunde entfernt, hat doppelt verloren: Das 1968 von einem Erdstoß vernichtete Dorf wurde von dem Künstler Alberto Burri in hellen Betonquadern eingesargt, und der viel zu großräumig angelegte neue Ort ist leer und seelenlos geblieben.
Rumiz erkundet Italien als Reich des Minotaurus, die seismische Linie, die von Sizilien bis zu den Alpen reicht, nennt er "einen guten Ariadnefaden". Im Inselinnern steigt er in Schwefelgruben, die nicht mehr zugänglich und in Vergessenheit geraten sind, und erlebt eine beängstigende Neuversion von Platons Höhlengleichnis. Im Val di Noto, das am 11. Januar 1693 um 14.45 Uhr vom heftigsten Erdbeben in der Geschichte Italiens verwüstet wurde, erreicht er den "Nullpunkt meiner Reise in die Welt der Dunkelheit"; auf den Ätna steigend, nimmt er den Vulkan nicht als Gefahr, sondern als "gutmütigen Gott" wahr; und in der Meerenge von Messina lernt er, dass man den Ort nur versteht, "wenn man nachts und nur mit der Kraft des Windes von einem Meer zum anderen segelt".
In Kalabrien landet Rumiz in (halb) verlassenen Dörfern, begegnet zurückgebliebenen Alten, findet die (verdrängte) "Authentizität einer antiken Welt wieder" und gesteht, "dass ich eine argwöhnische Liebe zu diesem schwierigen Land entwickelt hatte, das so oft seinen schlimmen Ruf Lügen strafte und mir Begegnungen mit freundlichen Menschen schenkte". Straßenbekanntschaften, die Volkswissen weitergeben, Lokalhistoriker, die ungewohnte Sichtweisen eröffnen, ein Bürgermeister, der sich schützend vor die Ruinen einer Abtei stellt, ein Anthropologe, der erzählt, dass die Erde im "Jahr der fünf Erdbeben" einen besonderen Wein hervorgebracht hat - Rumiz nimmt Neben-, Um- und Schleichwege, staunt über Mythen und Bräuche, blickt hinter Kloster- und Kirchenmauern. In der Basilikata kurvt er in sterbende Orte, wo sich jenseits der Abgeschiedenheit und Monotonie des Alltags eine wunderbare Vielfalt auftut. "Eines Tages wird der WWF kommen, um uns zu besichtigen wie die letzten Pandas", flachst Lidia, die den Job in Mailand aufgegeben hat und zurückgekehrt ist: "Der Bäcker hat schon zugesperrt, die Kinder gehen in Mehrstufenklassen, für die paar Leute, die in den Bergen leben, machen die Politiker keinen Wahlkampf."
Als in der Irpinia, zur Römerzeit ein Verkehrsknotenpunkt, heute eine "gottverlassene Region", 1980 die Erde bebte, wurden viele Bauten, die zu retten gewesen wären, geschleift: Die mangelnde Bereitschaft, der Gefahr vorzubeugen und erdbebensicher zu bauen, wird, von Rumiz mehrfach herausgestellt, zum Politikum des Buches. Seit grauer Vorzeit leben die Menschen am Golf von Neapel "mit dem Schrecken aus der Tiefe zusammen". Torre del Greco wurde fünfmal zerstört und an der gleichen Stelle wiederaufgebaut: "Post fata resurgo" steht im Ortswappen. Deswegen weggelaufen ist niemand. Warum? Die Antwort kennt viele Facetten: Den Golf beschreibt Rumiz als "Ort, der keucht, furzt, brummt, bebt, von Leuten wimmelt und Flüche ausstößt, mit dem man sich jedoch arrangieren muss". Die "Porosität", von Walter Benjamin 1925 in dem mit Asja Lacis verfassten "Denkbild Neapel" geprägt, ist auch für ihn der Schlüssel zur Stadt: "Die Angst ist", so zitiert er einen Vulkanologen, "eine Ware geworden, die Zeitungen leben davon. Doch das erzeugt ein Klima der Hysterie und der Irrationalität, das vielleicht noch größeren Schaden anrichtet als die Eruption selbst." Rumiz nimmt Abschweifungen, macht Gedankensprünge, erzeugt Synästhesien. Als Riccardo Muti ihm schreibt, die Tonart Neapels sei G-Dur, fällt ihm ein, dass ihm ein Sizilianer gesagt hat, die Tonart der Insel sei "Moll, höchstwahrscheinlich a-moll": Anstoß für eine kleine mentalitätsgeschichtliche Reflexion über die Unterschiede im Süden zwischen Vesuv und Ätna, Pragmatismus und Fatalismus, Trauerarbeit und Melancholie, Tarantella und Tanz-Allergie.
Die Grenze zwischen Süden und Norden, die das Flüsschen Garigliano zwischen Kampanien und Latium zieht, überschreitet Rumiz auf Seite 215, fast drei Viertel des Buches sind dem Mezzogiorno gewidmet; auch die Region Abruzzen, wo er auf den Ruinen früher Katastrophen sich dem Erdbeben in L'Aquila von 2009 nähert, gehört historisch zum Süden. In der Mitte des Landes folgt er der Bruchlinie, die 2016 von Amatrice aus in nördlicher Richtung gebebt hatte - auch ein Lehrstück über Politikversagen und Bürgerselbsthilfe. In Ascoli Piceno soll das Erdbeben 1703 keine größeren Schäden angerichtet haben, weil, so der Volksglaube, der heilige Emygdius die Stadt geschützt hat, ein Nimbus, den Rumiz entzaubert; in Rimini, das nach dem Erdbeben 1906 als "seismisch aktiv" eingestuft wurde, hat ein Freund des Duce 1940 erreicht, dass der die Touristen verschreckende Eintrag gelöscht wurde; und in Ferrara stellte das Erdbeben 1570 "alles auf den Kopf, auch die gesellschaftlichen Hierarchien". Am Hof von Herzog Alfonso II. d'Este wirkte ein Genie aus Neapel, der Architekt Pirro Ligorio, der das erste erdbebensichere Gebäude in Italien entwarf. Seine Abhandlung "Libro dei diversi terremoti" enthält eine bis heute aktuelle Schlussfolgerung: "Ordentlich bauen und nicht an der Qualität sparen."
"Ohne Erdbeben kann man Ferrara nicht verstehen", sagt Emanuela Guidoboni, historische Seismologin am Nationalinstitut für Geophysik und Vulkanologie in Bologna. Eben das gilt, so legt Rumiz eindrucksvoll dar, pars pro toto für das ganze Land. Seine Reise, mehr als "dreitausend Meilen der Abgründe, Erdbeben, Krypten und Vulkane", hat er abschnittweise zwischen 2009 und 2023 zurückgelegt, doch dicht, kenntnisreich und assoziativ geschrieben, fügt sie sich zu einer großen kulturgeschichtlichen Erzählung. Neben Flüchtigkeits- und Übersetzungsfehlern finden sich auch sachliche Schnitzer: Tunis liegt nicht auf dem 37. Längen-, sondern Breitengrad, Walter Benjamin und Asja Lacis veröffentlichten ihr "Denkbild Neapel" 1925 nicht in der F.A.Z., sondern in der Frankfurter Zeitung, und für den Palazzo Donnafugata im "Gattopardo" von Tomasi di Lampedusa ist nicht das gleichnamige Castello westlich von Ragusa, sondern der Sommerpalast der Familie Filangeri in Santa Margherita di Belice das Vorbild.
Vielleicht fand Rumiz, geboren 1947 in Triest, wo er etwas außerhalb im Rosandratal "auf fremdem Staatsgebiet" wohnt, auch deshalb, so gibt er am Ende zu bedenken, diesen anderen Zugang zu Italien, weil er sich dem Land vom Rand her nähert: "Ganz oben rechts auf der Karte kann ich mir einfacher vorstellen, dass die Halbinsel der Länge nach von einem Riss gespalten wird. Einem Riss, der die Identität der Italiener zugleich spaltet und prägt." Bleibt eine Frage: Warum hat Paolo Rumiz aus seiner "akustischen Reise" nicht auch ein Hörbuch gemacht? ANDREAS ROSSMANN
Paolo Rumiz: "Eine Stimme aus der Tiefe". Reise durch das unterirdische Italien.
Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Folio Verlag, Wien/Bozen 2025.
303 S., Abb., geb.
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