Besprechung vom 30.11.2024
Sie haben wohl ein ganzes Nest gefunden
Was hätte Leslie Meier von diesem Band übrig gelassen? Peter Rühmkorfs Editoren vermehren sein lyrisches Frühwerk.
Von Patrick Bahners
Von Patrick Bahners
In der vierbändigen Ausgabe der Werke von Peter Rühmkorf, die der Rowohlt-Verlag zu Lebzeiten des Autors publizierte, bot der erste, von Bernd Rauschenbach im Jahr 2000 herausgegebene Band die "Gedichte" (ohne bestimmten Artikel). Die Disposition der "Oevelgönner Ausgabe" der "Sämtlichen Werke", die von der Arno Schmidt Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Literaturarchiv betreut wird, sieht für die Abteilung Gedichte drei Bände vor. Der jetzt erschienene erste Band reicht bis 1962.
Der Raumbedarf ist nicht allein mit dem Wachstum des editorischen Apparats zu erklären. Dem lyrischen Gesamtwerk Rühmkorfs, der fast so ein pingeliger Vertreter seines Metiers war wie Philip Larkin, zwischen 1962 und 1979 gar keinen Gedichtband herausbrachte und dann nur einen pro Jahrzehnt, widerfährt eine erhebliche Erweiterung. Rauschenbach präsentierte aus dem ungedruckten oder verstreut publizierten Frühwerk eine Auswahl, die er gemeinsam mit dem Autor getroffen hatte. Als er 2016 Rühmkorfs "Sämtliche Gedichte" herausgab, wieder in einem Band, schob er das identische Konvolut von 71 "Frühen Gedichten" sogar ans Ende, weil diese Texte "einen anderen Status als die danach geschriebenen" hätten, "nicht nur im Urteil des Herausgebers, sondern auch des Autors".
Die auf 21 Bände angelegte, nach Rühmkorfs Wohnort benannte Ausgabe soll nun "sämtliche zu seinen Lebzeiten erschienenen und von ihm autorisierten Texte" enthalten - und noch mehr: "Texte aus dem Nachlass sind aufgenommen, wenn sie erkennbar abgeschlossen und ausgearbeitet sind und Werkcharakter haben." Bei den Gedichten haben die Herausgeber Rauschenbachs Entscheidung revidiert. Sie drucken aus der hektographierten Zeitschrift "Zwischen den Kriegen" alle 59 Gedichte Rühmkorfs und nicht bloß siebzehn, und aus der frühesten Periode, dem Schaffen des Siebzehn- bis Dreiundzwanzigjährigen, haben sie 125 Stück ausgegraben gegenüber 54. Der Umfang des postumen Gedichtsegens ist keine Überraschung. Rauschenbach hatte die Dimension genannt: für die Frühzeit bot das von ihm Ausgewählte einen Anteil von "etwa einem Drittel der erhaltenen Gedichte".
Sind denn die 113 neuen Rühmkorf-Gedichte oder doch die meisten von ihnen tatsächlich erkennbar abgeschlossen und ausgearbeitet, haben sie je für sich einen Werkcharakter? Was ist ein Gedicht? Nicht jeder Text, der mit gebrochenem Zeilenfall notiert ist. Fragwürdig scheint die Abgeschlossenheit mancher Stücke einerseits mit Bezug auf die Ausarbeitung, also die Zeitdimension der dichterischen Tätigkeit, andererseits im Verhältnis zu anderen Texten aus denselben Archivmappen. Beide Aspekte gehören zusammen: Nur wenn ein Gedicht fertig ist, wenn es einen Anfang und ein Ende hat (und einen Rand links und rechts), kann es in intertextuelle Beziehungen zu anderen Gedichten treten.
Zwei Beispiele mögen das Bedenken illustrieren. Der auf Seite 48 gedruckte Text ohne Überschrift mit der Anfangszeile "Die Stürme standen gegen" wird als Gedicht in vier Strophen präsentiert. Die Motivik ist blasphemisch, klingt nach Zeitkritik. Am Ende wird der Gekreuzigte "zur Strecke" gebracht. Die erste, dritte und vierte Strophe haben fünf Verse, die zweite vier. Diese Variation könnte ein poetisches Mittel sein. Aber im Apparat erfährt man, dass im Manuskript am Anfang der zweiten Strophe ein Vers gestrichen wurde. Vor "Und schlagt den Herrn ans Kreuz" stand "Jagt Juden, Hirsche, Neger".
Abgesehen davon, dass bei Ergänzung des ursprünglichen Anfangsverses das Reimschema der Strophe dem der übrigen entspricht, hängt der mit "Und" eingeleitete Imperativ in der Oevelgönner Druckfassung in der Luft, weil die Leser in der ersten Strophe noch gar nicht direkt angesprochen werden. Und das sind nur die Formalien. Der gestrichene Vers stellt eine drastische Verbindung zwischen der Religionskritik und der NS-Vergangenheit her, macht deutlich, welche "Finsternis" die erste Strophe beschwört. Kann man wirklich glauben, dass die Verschiebung der Sprache ins Ungefähre und des Stoffes in die Latenz der abschließende Ratschluss des jungen Dichters war? Nein, dieses Gedicht ist offensichtlich unvollständig.
Die schwer zu datierenden Jugendgedichte werden in alphabetischer Reihung gedruckt. So trennen zwanzig Seiten zwei Bearbeitungen einer klassischen Aufgabe, der Beschreibung eines Gemäldes von Henry Koerner. Handelt es sich hier tatsächlich um zwei Gedichte und nicht eher um zwei Fassungen oder Teile eines unfertigen Gedichts?
In Parallelaktion mit dem Lyrikdebütanten trat der Lyrikkritiker Rühmkorf auf den Plan, in der Kolumne "Leslie Meiers Lyrik-Schlachthof" in "Konkret", die in Band 12 der Oevelgönner Ausgabe schon kommentiert vorliegt (F.A.Z. vom 1. Juni 2023). Er hantierte auch deshalb fröhlich mit dem Metzgerwerkzeug, weil nach seiner Auffassung jeder Dichter das eigene Werk vor Drucklegung mit der Schere zu prüfen hatte.
Peter Rühmkorf hat lebenslang in der Hinterlassenschaft seiner ersten Drangzeit geblättert, hat manche Texte in seine autobiographischen Schriften eingefügt und am Schluss Rauschenbachs Rosinenlese abgesegnet. So wurde ein Teil des Frühwerks Teil des Spätwerks, was die Oevelgönner Ausgabe jetzt einebnet. Auch durch Nichtautorisierung sichert ein Autor seine Lebenswerkherrschaft.
In einer Rühmkorf-Komplettausgabe verdient das stillschweigend Ausgeschiedene seinen Platz. Aber die Herausgeber hätten besser von frühen Gedichtentwürfen gesprochen.
Peter Rühmkorf: "Gedichte 1 (1946 -1962)".
Sämtliche Werke. Oevelgönner Ausgabe, Band I/1. Hrsg. v. Susanne Fischer, Hans-Edwin Friedrich und Stephan Opitz. Wallstein Verlag, Göttingen 2024. 564 S., geb.
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