Die Sonette an Orpheus, verfasst im Februar 1922, gehö ren zu den letzten vollendeten Dichtungen Rainer Maria Rilkes. In weniger als drei Wochen schrieb er den gesamten Zyklus in zwei Teilen nieder, inspiriert von der gleichzeitigen Fertigstellung der Duineser Elegien und dem Tod der jungen Wera Ouckama Knoop, der er das Werk im Untertitel als "Grab-Mal" widmete.
Der Orpheus-Mythos dient Rilke weniger als erzä hlerischer Stoff denn als symbolischer Resonanzraum: Der Sä nger wird zur Gestalt poetischer Selbstreflexion, zur Chiffre fü r das dichterische Prinzip an sich. Die Sonette sind formal an die klassische Struktur angelehnt (zwei Quartette, zwei Terzette), doch Rilke weicht wie in diesem Beispiel bewusst von der traditionellen Reim- und Metrikbindung ab:
"Ein Gott vermags. Wie aber, sag mir, soll
ein Mann ihm folgen durch die schmale Leier?
Sein Sinn ist Zwiespalt. An der Kreuzung zweier
Herzwege steht kein Tempel fü r Apoll.
Gesang, wie du ihn lehrst, ist nicht Begehr,
nicht Werbung um ein endlich noch Erreichtes ;
Gesang ist Dasein. Fü r den Gott ein Leichtes.
Wann aber sind wir? Und wann wendet er
an unser Sein die Erde und die Sterne?
Dies ists nicht, Jü ngling, daß du liebst, wenn auch
die Stimme dann den Mund dir aufstö ß t, - lerne
vergessen, daß du aufsangst. Das verrinnt.
In Wahrheit singen, ist ein andrer Hauch.
Ein Hauch um nichts. Ein Wehn im Gott. Ein Wind."
(Erster Teil, III. Sonett, S. 9 )
Erstmals erschienen 1923. Hier frisch aufgelegt als gebundene Neuausgabe in gut lesbarer Schriftgrö ß e. Mit Lesebä ndchen.
Rainer Maria Rilke.
Die Sonette an Orpheus.
Geschrieben als ein Grab-Mal fü r Wera Ouckama Knoop.
Erstdruck: Insel Verlag, Leipzig 1923.
Durchgesehener Neusatz, der Text dieser Ausgabe folgt:
Insel Verlag, Wiesbaden 1956.
Vollstä ndige Neuausgabe, Gö ttingen 2025.
LIWI Literatur- und Wissenschaftsverlag