Besprechung vom 18.01.2025
Auferstehung aus der Trümmerstätte
Zur postumen Genese eines Werks: Robert Pursches Geschichte des Nachlebens von Walter Benjamin ist das seit langer Zeit gewichtigste Buch über den Kritiker und Philosophen.
Von Wolfgang Matz
Am Ende mischte sogar die Stasi mit. Im März 1968 forschte sie unter dem Decknamen "Revisionist" nach staatsgefährdenden Germanisten und erlauschte in einem abgehörten Telefonat Verdächtiges über "einen gewissen 'Benjamin'". Im zuständigen Ministerium war kein "Benjamin" bekannt. Also vermutete man einen "Neuling oder Anfänger", einen, der als "ideologisch-schwankender Mensch" naturgemäß observiert gehörte. Erst in der linken West-Berliner "Alternative" fanden die staatssichernden Leser Indizien für die wahre Identität des Gesuchten.
Zuweilen gibt es Bücher, bei deren Lektüre man staunt, dass sie nicht längst geschrieben worden sind; so ein Buch ist Robert Pursches Studie "Umkämpftes Nachleben - Walter Benjamins Archive 1940-1990" (Wallstein Verlag, Göttingen 2024. 427 S., Abb., geb., 49, - Euro), wohl das seit langer Zeit gewichtigste Buch in der längst uferlosen Benjamin-Literatur. Wie aus einer einzigen "Trümmer- oder Katastrophenstätte" - so Benjamin selbst - ein weltweit ediertes, übersetztes, gelesenes, diskutiertes Werk werden konnte, das ist eine unglaubliche Geschichte, auf die der Betroffene am allerwenigsten gewettet hätte: "So sind zwar viele, oder manche, meiner Arbeiten Siege im Kleinen gewesen", konstatiert er 1932, "aber ihnen entsprechen die Niederlagen im Großen." Im Pariser Exil, kurz vor Beginn eines neuen Weltkriegs, fehlt ihm fast schon die Kraft zum Weitermachen: "Dazu sind die Reize, die die Mitwelt auf mich ausübt, zu schwach, und die Prämien der Nachwelt zu ungewiß." Wie hätte er ahnen können, was die Nachwelt ihm bereiten würde: einen einzigen Siegeszug im Großen.
Was Pursche jetzt als Erster konsequent erforscht hat, zählt zu den säkularen Wundererzählungen von literarischer Auferstehung. Vergleichbar nur mit Hölderlin, Kafka, Wittgenstein ist Walter Benjamin ein postumer Autor, ein Großteil seines Werkes entstammt dem Nachlass, das Publizierte war verstreut, vergessen, inhaltlich und formal so disparat, dass es schon zu Lebzeiten nie als ein Ganzes sichtbar war. Und die Geschichte dieser Auferstehung ist nicht nur kulturhistorisch fesselnd, sie ist auch ein einschneidender Beitrag zur inhaltlichen Deutung dieses schwer fassbaren Werks. Denn was eigentlich ist bei einem posthumen Autor das "Werk"? Der Interpret Benjamins kommt nicht länger vorbei an der Erkenntnis, dass ein solches Werk zunächst einmal überhaupt nicht existierte, sondern unvermeidlich erst durch die aufeinanderfolgenden Stufen der Edition konstruiert wurde, und diese wiederum waren unvermeidlich gelenkt durch die unterschiedlichen Erkenntnisinteressen der Editoren. Die Erzählung über "Walter Benjamins Archive 1940-1990" wird dadurch zu einer materialreich fundierten kritischen Revision von fünfzig Jahren Benjamin-Interpretation.
Und dies wäre das erste Resümee: Ohne Theodor W. Adorno, Hannah Arendt und Gershom Scholem hätte die Auferstehung wohl niemals stattgefunden. Wer außer diesen drei Benjamin Nahestehenden - aber nicht unbedingt einander - hätte so ausdauernd insistiert, die Edition eines nahezu Unbekannten sei nach Ende des Weltkriegs dringende Notwendigkeit. Und allem internen Streit, allen äußeren Widrigkeiten zum Trotz hielten sie an dieser Überzeugung fest, bis zum endlichen Erfolg. Doch niemand wusste 1945 genau, worin der Nachlass bestand und wo er sich befand, und die drei ursprünglichen Protagonisten waren längst gestorben, ehe das Zerstreute nach Jahrzehnten tatsächlich zusammenfand.
Ebenso kurz resümiert: 1945 weiß man von zwei wesentlichen Nachlassarchiven, beide in den Händen von Privatpersonen. Gershom Scholem hatte in Jerusalem während seiner langen Freundschaft so viel wie möglich von Benjamin gesammelt, und dieser hatte ihm, um die eigene prekäre Lebenssituation wissend, auch seinerseits so viel wie möglich zur Sicherung anvertraut; nur bei Scholem lag deshalb der bedeutende, doch völlig unbekannte Werkkomplex aus Benjamins esoterisch-metaphysischer Frühzeit, den der Archivar dann auch gegen die spätere materialistische Wende des Archivierten stets hochhalten sollte.
Theodor W. Adorno dagegen hatte nach Kriegsende auf Umwegen das erhalten, was Georges Bataille bei Benjamins Flucht aus Paris in der Bibliothèque nationale versteckt hatte und nach Wunsch des Autors an ihn weiterreichte; Adorno erhielt dadurch wiederum gerade jenen Nachlassteil, der ihn am stärksten interessierte, so das gesamte Material zu den geplanten "Pariser Passagen", zu Baudelaire und zu den späten geschichtsphilosophischen Reflexionen. Hannah Arendt dagegen, die Dritte im konkurrierenden Bunde, besaß kein nennenswertes Archiv, drängte auf Editionen in Deutschland und den USA, verdächtigte aber Adorno von Anfang an, er wolle Benjamin berauben, verfälschen, unterdrücken, eine eifersüchtige Obsession, die sie auch angesichts von Adornos Publikationen kaum revidieren wollte. Diese Nachkriegskonstellation ist gleichsam die Mutter aller folgenden Dispute, der sinnvollen wie der absurden, der philosophischen wie der politischen. Eine nicht genug zu rühmende Qualität von Pursches Buch ist die gelassene Souveränität, mit der er die heikle Konstellation analysiert, unparteiisch und konzessionslos in alle Richtungen. Adornos und Scholems Interesse war selbstverständlich nicht das von neutralen Historikern; sie hatten intensiv mit Benjamin diskutiert, sich wechselseitig beeinflusst, waren leidenschaftliche, kritische Interpreten seines Denkens, und gerade darum hatte er sie zu den Adressaten seines Nachlasses gemacht. Heikel daran war natürlich die Personalunion des parteinehmeden Interpreten mit dem exklusiven philologischen Herausgeber, Ursprung aller Polemiken, die nachgerade jede Publikation begleiten sollten.
Bevorzugtes Ziel wurde dabei Adorno - obwohl nur er mit seiner hartnäckigen Verlagssuche die ersten Ausgaben durchgesetzt hatte: 1950 die "Berliner Kindheit um neunzehnhundert", 1955 "Einbahnstraße" sowie die zweibändigen "Schriften", herausgegeben mit Friedrich Podszus und der von Pursche besonders gewürdigten Gretel Adorno. Dann erschienen 1966 die ebenfalls zweibändigen "Briefe". Doch während laut Peter Suhrkamp die "Berliner Kindheit" das am schlechtesten verkaufte Buch des Verlags blieb, begann nun die immer steilere Erfolgskurve, und mit der Briefausgabe setzten im Zuge der Fahrt aufnehmenden Achtundsechziger-Revolte auch die massivsten Kämpfe ein. Für diese Ausgabe nämlich zeichneten beide verantwortlich, in deren Hand sich der Nachlass befand: Scholem und Adorno. Wieder nährte die Doppelfunktion als Herausgeber und Interpreten Vorwürfe aller Art.
Mit dem Erscheinen der "Briefe" beginnt für die gesamte Benjamin-Rezeption das "Zeitalter des Verdachts". Dabei ist es gar nicht so einfach, die diversen, zum Teil begründeten, zum Teil an den Haaren herbeigezogenen, zum Teil einander widersprechenden Motive des Argwohns auseinanderzuhalten; umso wirkungsvoller allerdings waren sie in einem Klima, wo der Angriff auf vermeintliche Autoritäten a priori höchste Glaubwürdigkeit genoss. Die Kritik an Adornos Herausgeberschaft und der Streit um die richtige Benjamin-Interpretation sind, als intrikate Mischung aus editorischen Details und hemdsärmeliger Politik, eine Blüte im universitären Milieu der Achtundsechzigerjahre. Mit Pursches Darstellung kann man präzise nachvollziehen, wie philologische Fragen - Stand der Ausgaben, Verfügbarkeit von Manuskripten, Zugänglichkeit des Nachlasses in den Archiven - ganz unmittelbar die inhaltlichen Diskussionen bestimmten, ja zum Teil überhaupt erst möglich machten. Treibstoff aller Debatten war die Frage nach dem "marxistischen Benjamin", oder polemisch gesagt: der Vorwurf, Adorno wolle diesen "marxistischen Benjamin" fälschen, unterdrücken, manipulieren. Die ganze Kontroverse wurde in dieser Intensität allerdings nachdrücklich durch die Archivsituation befeuert, also durch den Verdacht, irgendwo müsse noch der wahre, marxistische Benjamin versteckt sein; die Überschätzung des späteren Benjamin für marxistische Theoriebildung verdankte sich nicht einfach dem Publizierten, sondern ganz wesentlich der Wunschperspektive auf das noch Erwartete. Und galt das nicht übrigens auch für Adorno selbst, der die Hoffnung auf Rekonstruktion der "Passagen" als philosophisches Hauptwerk des Jahrhunderts nie aufgeben wollte?
Die Verwirrung der Gefühle und Gedanken rieb sich jedenfalls immer wieder an demselben Adorno, dem die einen unterstellten, er verfälsche Benjamin aus Eigeninteresse zum Marxisten, die anderen, er wolle ihm den Marxismus geradewegs austreiben. Hannah Arendt verstieg sich sogar bis zu der abenteuerlichen Behauptung, Benjamin habe ausgerechnet mit Heidegger "ohne es zu wissen, im Grunde erheblich mehr gemein als mit den dialektischen Subtilitäten seiner marxistischen Freunde". Unter den "marxistischen Freunden" verstand sie indes nicht Bertolt Brecht, der in diesem Zusammenhang eine gute Note bekam, sondern Adorno mit seinen Frankfurter Schülern - und der Einschub "ohne es zu wissen" ist in Fragen der Philosophie ohnehin eine höchst reizvolle Diagnose.
In solchem Wirrwarr schafft Pursche lang vermisste Ordnung. Er kämpft nicht die alten Kämpfe, er überspringt die Frontlinien, indem er sie analysiert. Dabei kommt keiner der intellektuellen Kämpen ungeschoren davon. Hannah Arendts alte Bindung an Heidegger - den Benjamin "unter Führung von Brecht und mir" zu "zertrümmern" gedachte - war gewiss unendlich stärker als die Exilfreundschaft mit Benjamin und Triebkraft ihres obsessiven Hasses auf den Heidegger-Kritiker Adorno. Dessen Selbstverteidigung gegen den Vorwurf der Textmanipulation hatte ihrerseits eine Schwachstelle: Er hatte tatsächlich in Briefen und einem Aufsatz Satzteile gestrichen; diese waren zwar minimal, aber trotzdem, sein empörter Widerspruch stand auf dünnem Eis. Der Anklagepunkt der Textunterdrückung dagegen ging fehl, denn nur mit Mühe hatte er überhaupt die zwangsläufig beschränkte Auswahl der "Schriften" durchgesetzt. Außerdem wollte er beim besten Willen nicht jeden Artikel von Benjamins Hand für unverzichtbar erklären, sogar dieser selbst war sich bewusst, dass manche Brotarbeit "keinerlei Interesse außer dem verflossenen ökonomischen besitzt", und bekannte gar, "dass ich es immer mehr lerne Feder und Hand mir für die paar wichtigen Gegenstände zu reservieren und das laufende Zeug für Rundfunk und Zeitung in die Maschine quatsche". Die Frage der Textauswahl stellte sich neu für die Planung der "Gesammelten Schriften", die dann von 1972 bis 1989 erschienen und zum ersten Mal eine umfassende, verlässliche Textgrundlage schufen: Scholem bestand als einziger auf dem Druck sämtlicher, zumindest fast sämtlicher Texte; er hielt zwar laut Protokoll "alles, was bei Benjamin mit dem Marxismus zusammenhänge, für minderwertig", wollte aber von vornherein jeden Verdacht der Manipulation vermeiden.
Doch mit den "Gesammelten Schriften", eine bewunderungswürdige Leistung von Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann, war die Sache mitnichten ausgestanden. Im Lauf der Jahre hatte sich nämlich herausgestellt, dass noch andere Nachlassteile existierten, zunächst einmal in Potsdam und Ost-Berlin. Es ist eine bizarre, hoch komplizierte Geschichte, wie Benjamin zum Spielball im Kalten Krieg wurde, zwischen Verlagen in Ost und West, Archiven, Herausgebern und den unvermeidlichen Eckermännern von der Stasi. So hatte Scholem zwar überraschend erfahren, dass ein Großteil seines verloren geglaubten Briefwechsels mit Benjamin dort überdauert hatte, doch er wurde ihm "offenkundig aufgrund höherer Weisung" konsequent vorenthalten. Der zweite Schlag erfolgte 1982: Gerade als Tiedemann das legendenumwobene "Passagenwerk" endlich im Druck hatte, entdeckte Giorgio Agamben unbekannte Manuskripte in der Pariser Bibliothèque nationale - Wasser auf die Mühlen derjenigen, die in alter Tradition die unerhörte Editionsleistung des Adorno-Schülers Tiedemann stante pede für obsolet erklären wollten. Die Sache hatte weder Hand noch Fuß, doch bediente sie halbwegs plausibel das bekannte Muster, dass die Wahrheit über Benjamin noch immer anderswo verborgen sein musste.
"Umkämpftes Nachleben" rekonstruiert in exemplarischer Weise das Schicksal eines literarischen Werkes, das unvollendet blieb und auch durch Philologie nicht vollendet werden kann. An Robert Pursches zudem noch sehr gut geschriebenem Buch wird künftig keine Benjamin-Debatte vorbeikönnen, umreißt es doch präzise die schriftlichen Dokumente seines Denkens und trennt davon die zahlreichen Legenden ab. Das ist durchweg spannend, dramatisch, immer wieder komisch, zuweilen traurig, und bei Bedarf bleibt trotz allem noch genügend Legendenstoff übrig.
Denn fast unvermeidlich brauchte Benjamins abenteuerliche Nachlassgeschichte den Epilog, der dann 1980 auch anhub. Mit Lisa Fittko meldete sich jene Frau zu Wort, die Walter Benjamins Flüchtlingsgruppe auf dem letzten, tragisch endenden Weg über die spanische Grenze geführt hatte. In ihrem wunderbaren Erinnerungsbuch "Mein Weg über die Pyrenäen" erzählte sie etwas, was nicht nur Gershom Scholem und Rolf Tiedemann elektrisierte: Benjamin habe auf seiner Flucht eine schwere Aktentasche mit sich getragen. "'Wissen Sie, diese Aktentasche ist mir das Allerwichtigste', sagte er. 'Ich darf sie nicht verlieren. Das Manuskript muß gerettet werden. Es ist wichtiger als meine eigene Person.'"
Damit war die letzte Legende geboren, denn als Tiedemann in Port Bou nachforschte, fehlte von diesem Manuskript vierzig Jahre nach Benjamins Tod jede Spur. Was mochte die Aktentasche enthalten haben? Das endlich fertiggestellte "Passagenwerk"? Ein anderes, unbekannt gebliebenes letztes Wort, das endlich die Wahrheit über diesen schwer durchschaubaren Autor enthüllte? Wieder stand man vor einem Rätsel, wie es Benjamins ganzes Leben und Nachleben prägt. Dabei gibt es eine sehr plausible Hypothese: Dieses letzte Manuskript, vermutet Tiedemann, war keineswegs unbekannt, es waren jene späten Thesen "Zum Begriff der Geschichte", die bereits 1942 als einer der ersten Texte aus dem Nachlass gedruckt worden sind; unersetzlich, weil Benjamin in den Wirren des Kriegsbeginns keineswegs sicher sein konnte, ob eine der wenigen Abschriften den Weg aus Europa finden mochte. Und auch wenn diese Frage eine definitive Antwort wohl nie finden kann, so lautet die Lehre aus Pursches Studie: Dieses letzte Wort, diese immer noch in den Archiven verborgene Wahrheit gibt es nicht; heute, da alles gedruckt ist, der Nachlass nicht mehr in Privatbesitz liegt, sondern zugänglich im Walter-Benjamin-Archiv der Berliner Akademie der Künste, ist der Gehalt von Benjamins Denken endgültig Sache der philosophischen Diskussion.
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