Besprechung vom 19.11.2022
Leben in Westberlins vergessener Exklave
Zerreißprobe: Rolf Haufs' Roman "Steinstücken"
Der Roman "Steinstücken" aus dem Nachlass des 2013 verstorbenen Schriftstellers Rolf Haufs erzählt die Geschichte des jungen Georg, der, aus dem verstockten niederrheinischen Rheydt kommend (im Roman oft als Kaff bezeichnet), nach Berlin aufbricht und sich dort, mitten im Kalten Krieg, in der bewohnten westdeutschen Exklave Steinstücken niederlässt.
Dort wird er mit den Lebensumständen und Denkweisen der Eingeschlossenen konfrontiert, beobachtet die Maßnahmen zu ihrer Bewachung, erfährt die Grenzkontrollen mit Wachtürmen, Warnschüssen und Leuchtraketen, erlebt Verhöre, Leibesvisitationen, Verhaftungen, Gefängniszellen und Fluchtversuche. Zeitgeschichtlich betrachtet, reicht der Roman bis zu der Einrichtung der amerikanischen Hubschrauber-Luftbrücke zwischen Berlin und Steinstücken im Jahr 1961, dem Jahr des Mauerbaus in Berlin. In dieser Zeit dürfte der nachgelassene Roman entstanden sein. Als 1964 auch Steinstücken eingemauert wurde, war Haufs bereits nach Schöneberg umgezogen - ein terminus ante quem.
Für Rolf Haufs ist "Steinstücken" mehr als nur ein zeitgeschichtliches Zeugnis. Der Roman ist zugleich die Lebensgeschichte eines Fünfundzwanzigjährigen, der seine Gegenwart als eine Abfolge von Zerreißproben und Zerstückelungen sieht, Traumata, die sich in seinem Leben zu einem Ganzen nicht fügen wollen. Georg kann weder erklären, warum er Rheydt verlassen hat, noch, ob und warum er in Steinstücken bleiben will. In der kafkaesken Schlussszene, als Georg aus der Gefängniszelle einem Richter vorgeführt wird, "versuchte er, S. zu erklären". So lautet der letzte Satz des Romans. Wie das Urteil des Richters ausfällt, ob es zu einer Verurteilung Georgs, möglicherweise wegen der Beihilfe zu einer abenteuerlichen Fluchthilfe, kommen wird oder gar zu seiner Liquidation, erfährt man nicht. Steinstücken bleibt letztlich unerklärt, ja: Die Unerklärbarkeit des Ortes, seiner Bewohner und des Berichterstatters selbst ist geradezu das Leitthema des Romans, den Rolf Haufs unveröffentlicht liegen ließ.
Warum eigentlich? Die Schriftstellerin Kerstin Hensel, Haufs' letzte Lebensgefährtin, vermutet in ihrem Nachwort, eine geplante Publikation des Romans im Luchterhand-Verlag sei 1963 "durch die politischen Querelen, die die Verhaftung Rolf Haufs' mit sich brachten, nicht zustande" gekommen; sie spielt dabei auf Verdächtigungen im Zusammenhang mit Haufs' intensiven "Ostkontakten" an, die ihm eine sechsundfünfzigtägige Untersuchungshaft in Westberlin eintrugen. Haufs hatte an Tagungen des DDR-Schriftstellerverbandes teilgenommen, unterhielt engere Kontakte zu Autoren der DDR (Johannes Bobrowski, Peter Huchel, Georg Maurer, Paul Wiens) und hatte 1960 sogar ein halbes Jahr am Johannes-R.-Becher-Literatur-Institut in Leipzig studiert. Andererseits fand er die Fürsprache und konkrete Unterstützung durch Günter Grass, der ihn an den Luchterhand-Verlag vermittelte, durch Franz Schonauer, den damaligen Lektor dieses Verlages, der ihm in seiner Wohnung Gelegenheit bot, ungestört "seinen Roman weiterzuschreiben", und durch Hans Werner Richter, der ihn in die Gruppe 47 einlud, wo er als "Wunderkind" galt und mit seinem lyrischen Erstling "Straße nach Kohlhasenbrück" 1962 Erfolg hatte.
Diese Straße, die durch das Gebiet der DDR führte, bildete die einzige, allerdings bewachte und kontrollierte Verbindung zwischen Berlin und der Exklave Steinstücken: "Wir sind nicht viele. Doch berühmt. / Willy Brandt braucht einen Passierschein. / Die Pappeln sind spitz. Die Schranke / sieht aus wie eine Kanone."
Man muss wohl annehmen, dass es nicht äußere Umstände waren, die damals einer Veröffentlichung des Romans entgegenstanden, sondern dass es Rolf Haufs' eigene künstlerische Entscheidung war, ihn in dieser Form nicht zu publizieren. Er war offenbar auf der Suche nach einer dem Thema Steinstücken angemessenen Darstellung.
Jedenfalls publizierte er sein Steinstücken-Vorhaben in stark veränderter Form unter dem Titel "Das Dorf S." 1968 als titelgebende Erzählung in seinem ersten Prosaband "Das Dorf S. und andere Geschichten". Ein Vergleich dieses Prosastücks mit dem früheren, nun erstmals vorliegenden Roman "Steinstücken" lässt die konzeptionelle Umgestaltung des ursprünglichen Projekts deutlich erkennen.
Im Roman begleitet ein konventioneller Erzähler seine fiktive Hauptfigur Georg gleichsam von außen und schildert "allwissend" deren Innenleben konsequent im erzählerischen Imperfekt und in der berichtenden Er-Form: "Zum ersten Mal seit seiner Ankunft verspürte Georg Unruhe und Angst. Was ihn bisher nur neugierig gemacht hatte, bekam plötzlich etwas Gefahrvolles." Dagegen erscheint dann in der publizierten Erzählung "Das Dorf S." die vergegenwärtigende Ich-Form des sich selbst beobachtenden Berichterstatters: "Mich friert. Die Nässe zieht durch bis auf die Haut. Ich trappele mit den Füßen auf der Stelle. Ich schlage die Arme um den Leib."
Der Plot des Romans ist auch in "Das Dorf S." noch erkennbar, aber in sehr reduzierter und zerstückelter Form. Die im Roman in langen Satzperioden ausgeführten Beschreibungen der Mentalitäten der Bewohner von Steinstücken werden zu 26 kurzen Einzelszenen protokollartig verkürzt, in die, durch Kursivdruck hervorgehoben, Zitate aus Zeitungen, amtlichen Schreiben, Warntafeln und zu Slogans heruntergekommenen "politischen Absichten" unkommentiert eingefügt sind.
Beide Fassungen haben ihre Meriten: Der Roman ist der fortlaufende und letztlich nicht abschließbare Versuch, dem politisch-zeitgenössischen und zugleich individuellen Phänomen der Zerstückelungserfahrung Steinstücken mit den herkömmlichen literarischen Mitteln des Bildungs- beziehungsweise Entwicklungsromans und mit den Stilmitteln des Expressionismus und des Surrealismus gerecht zu werden und in diesem Sinne zu "erklären". Streckenweise erinnert das an den Montage- und Siumultanstil in Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz". Die spätere Erzählung dagegen ist eine persönlich verantwortete Dokumentation der Unerklärbarkeit des Phänomens der Zerstückelung. Sie ist radikaler, pointierter und in diesem Sinne moderner als der Roman, der für den orientierungslosen Georg auf unterhaltsame Weise um Verständnis wirbt. WULF SEGEBRECHT
Rolf Haufs: "Steinstücken". Roman.
Mit einem Nachwort von Kerstin Hensel. Quintus-Verlag, München 1922. 175 S., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.