Besprechung vom 19.11.2024
Materialisten sind die wahren Träumer
Familie als Kampfzone der Leistungsgesellschaft: Roman Grafs Montageroman "Leben ohne Folgen"
Was ist zu tun, wenn man sich gegen konventionelle Erwerbsarbeit entscheidet, weil man ein Dasein als alltäglichen mechanischen Ablauf ablehnt und stattdessen die Dinge des Lebens in vollkommener Harmonie mit sich selbst bewältigen will? Lorenz Zweifel, der Icherzähler in Roman Grafs Roman "Leben ohne Folgen", hält sich an Paul Lafargues Devise "Recht auf Faulheit". Der zufolge ist die grassierende Produktions- und Konsumptionslogik nichts weiter als eine "jämmerliche Kopie der christlichen Moral", die dem Menschen die Rolle einer Arbeitsmaschine zuweist. So weit, so gut, aber dass, wer sich auf Lafargue beruft und bezahlte Arbeit mit Prostitution gleichsetzt, früher oder später an lebenswirkliche Grenzen stößt, liegt auf der Hand. So passiert es auch Roman Grafs Helden, einem Schweizer Literaturliebhaber, der sein "abwägendes, essentielles Nichtstun" als Neuzeit-Bohemien in Berlin-Neukölln (noch) aus Mieteinnahmen finanziert und erklärtermaßen außer seinem Kind im Leben möglichst wenige Spuren hinterlassen möchte. Eines Tages setzt ihn seine verbeamtete Frau auf die Straße, dort wo im besten Berliner Schmuddelklischee Müll- und Hundekot sich türmen und man als ordnungsliebender Helvetier schnell unter die Räder teutonischer Grobheiten kommt: "Mein Froschkönig, pass auch Dich auf!"
Was sich bei Roman Graf auf den ersten Seiten liest wie eine leichtfüßige Parodie auf das Berliner Kreativ-Prekariat, entpuppt sich bald als eine ziemlich ernste Verhandlung der Frage nach dem vermeintlich richtigen Lebenskonzept. Sind materielle Sicherheit und geistige Erfüllung, individuelle Selbstverwirklichung und kollektive Familienverantwortung, lebenswirkliche Annehmlichkeiten und konsumübersättigte Langeweile überhaupt gegeneinander auszuspielen? "Wer mit einer Frau oder einem Mann in einer billigen Absteige nicht glücklich war, wurde es auch in einem Fünf-Sterne-Hotelzimmer nicht, schlimmer noch, in einer Luxussuite war Ärger vorprogrammiert, weil immer etwas nicht stimmte, für den ausgegebenen Betrag", heißt es da im Ton der Selbstvergewisserung. Geld und Ausstattung gelten in Grafs Szenerie zwar als Lebensballast, zugleich aber beschäftigt seine Figuren kaum etwas intensiver als der eigene Geldmangel und die materiellen Spielräume der anderen. Sind Freigeister mit ihrer brotlosen Leidenschaft für die Literatur also nur selbstvergessene Träumer, die vom "echten Leben" die Finger lassen? Oder sind die wahren Träumer vielmehr diejenigen, die mangels kreativer Phantasie ihr Glück im Konsum suchen?
Diese Frage untersucht Roman Graf in seinem Montageroman, indem er sie in ähnlicher Konstellation und mit wechselndem Personal wie in einer literarischen Laborreihe durchspielt. Deren Episoden bilden jeweils eigenständige narrative Einheiten. Wie es weitergeht mit Lorenz Zweifel, den seine Frau wegen seiner Geldverachtung und Arbeitsverweigerung vor die Tür setzt und der seinen Kummer darüber paradoxerweise in einem Kaufrausch zu lindern sucht, bleibt offen. Stattdessen schwenkt Graf um auf die nächste Szenerie. In "Vater und Sohn" berichtet ein allwissender Erzähler von einem Schweizer, der in Leipzig als Dozent für die Literatur seines "aussterbenden Völkchens" lehrt und im deutschen Alltag an der Unzuverlässigkeit des Zugverkehrs, am brüsken Umgang mit Geld, kulinarischen Zumutungen und diversen anderen Unannehmlichkeiten verzweifelt. Das Verhältnis der Schweizer zu ihren deutschen Nachbarn ist so wie bereits in Grafs Roman "Niedergang" (2013) über die Bergtour eines jungen Paares auch in "Leben ohne Folgen" geprägt durch den Widerspruch zwischen Überheblichkeit und einem kulturellen Minderwertigkeitsgefühl. Die Schweizer Literaturgeschichte etwa, so lehrt es der Dozent in Leipzig, sei eine "Geschichte des Scheiterns, die einer zweitklassigen Literatur, die versuche, erstklassig zu sein".
Eine Ausnahme davon ist in Grafs narrativem Meta-Universum der fiktive Schriftsteller Roberto Cotti, einer der wichtigsten, wenngleich lange verkannten Schweizer Autoren der Moderne. Cotti, der biographische Parallelen zum realen Autor Roman Graf aufweist, wird zum Epizentrum dieser thematisch mäandernden Romancollage, in der sich Fiktionsebenen und Realreferenzen immer dichter überlagern. Die Wirklichkeitssimulation des Anfangs über den stilvoll scheiternden Lebenskünstler in Berlin gibt Graf auf und beginnt mit der freien Kombination anderer Figuren, Motive und Handlungselemente. Zumeist geht es um Schweizer mit abwesenden Vätern, einer Schwäche für Windhunde und sündhaft teure Designermöbel sowie einer Leidenschaft für Literatur und eher wenig Talent zum Geldverdienen. Sie hängen verpasstem Liebesglück der Jugend nach, heiraten in Deutschland eine andere, ihnen finanziell überlegene Frau und ziehen auf deren Wunsch in die Provinz, wo nach dem ersten Kind Liebesaus, Paartherapie, Scheidung und finanzielle Notlage folgen.
Mit jeder weiteren Aufbereitung dieser Handlungselemente verliert Grafs zunächst spielerisch in konzentrischen Kreisen erzählender Roman seine literarische Unschuld und entwickelt sich zu einer programmatisch gesteuerten, didaktisch-therapeutischen Fallreihe über die finanziellen und emotionalen Folgen von Ehescheidungen. Grafs Darstellung von Familienvätern, die zwar in prekärer Finanzlage sind, aber viel Zeit und ein großes Herz für das eigene Kind haben, suggeriert dabei zuweilen sehr einseitig eine gezielte gesellschaftliche Benachteiligung. Der Verweis auf eine Hilfsorganisation für Sorgerechtskonflikte am Ende des Buches bestätigt den Eindruck, dass es in "Leben ohne Folgen" nur vordergründig um die Absage an Konsum- und Leistungsmechaniken geht. Vielmehr wiederholen Grafs Episoden immer kleinteiliger die Leidensgeschichte von Männern, die den materiellen Ansprüchen ihres sozialen Milieus nicht gerecht werden und mit hysterischen Ex-Frauen oder gnadenlosen Anwältinnen zu kämpfen haben.
Immerhin bietet ein Leben ohne Geld, aber mit geistiger Erfüllung und sorgender Kinderliebe auch Hoffnung. Am Ende, im Jahr 2044, sitzt ein weiterer geklonter Freigeist bei Temperaturen um die vierzig Grad allein mit seinen Büchern vor einem Wohnwagen am Plötzensee und erkennt, dass nicht das Geld seiner Mutter, sondern die Liebe seines Vaters ihn zu dem machte, der er wurde. So viel Armutsromantik kann sich nicht jeder leisten. CORNELIUS WÜLLENKEMPER
Roman Graf: "Leben ohne Folgen". Roman.
Wallstein Verlag,
Göttingen 2024.
449 S., geb.
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