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Besprechung vom 16.03.2024
Schreib meine Freundin ins Leben zurück!
Das untote Mädchen: In Sachiko Kashiwabas Kinderbuch erweisen sich die Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits als unscharf.
Von Steffen Gnam
Sachiko Kashiwaba überblendet in ihrem Roman "Das geheimnisvolle Dorf im Nebel" Alltägliches mit Surrealem, Mythen und Mystery, Elemente englischer Schauerliteratur mit jenem humorvollen Horror, der die japanische Vortragskunst "Rakugo" prägt.
Die Abenteuergeschichte beginnt damit, dass der Grundschüler Kazu ein Geistermädchen im schneeweißen Kimono aus den Schiebetüren seines Hauses entschwinden sieht - seine Straße hieß früher "Kimyotempelgasse", wobei der Tempelname "Kimyo" so viel wie "zurückkehrende Leben" bedeutet. Am nächsten Tag sitzt es im Klassenzimmer, doch alle Klassenkameraden wundern sich über Kazus Verwunderung, denn besagte Akari sei schon immer da gewesen.
Ist Akari eine "Wiederauferstandene"? Und warum kam sie aus Kazus Haus? Von seinem Onkel erfährt Kazu, dass es sich beim Kimyotempel um die Statue eines zwischen den Gassenbewohnern zirkulierenden "wandernden Buddhas" handelte. Durch ihre Anrufung konnte man für die Rückkehr verstorbener Angehöriger beten. Doch als Kazu im Hausaltar nach der Buddhastatue sucht, ist sie verschwunden: Würde sie vom Dieb verbrannt, wäre Akaris wiedergewonnenes Leben - vierzig Jahre zuvor war sie an einer unheilbaren Erkrankung gestorben - in Gefahr.
Die mutmaßliche Diebin, auch wenn sie die Tat leugnet, ist die alte Nachbarin Minakami, mit der Kazu eine Hassliebe verbindet, zumal sie die Macht hätte, Akaris Existenz zu vernichten. Weitere alte Akteure sind die Mutter aus Akaris erstem Leben, die eine Rolle bei ihrer Wiederauferstehung spielte, und eine alte Kimono-Händlerin. Erkenntnis und Erzählstoff gedeihen bei Kashiwaba aus solchen Interaktionen alter Menschen mit Kindern - wobei die Kinder oft vernünftiger, lebensklüger wirken.
Ein Schlüssel zur Wahrung der Quelle der Tempelkraft und zum Weiterleben Akaris liegt in einem unvollendeten Fortsetzungsroman, den sie als rare Erinnerung an ihr Vorleben vor 40 Jahren in einer Mädchenzeitschrift las. Akari und Kazu begeben sich auf metaphorische Suche nach dem Ende der Geschichte. Als sie die Autorin des Romans ausfindig machen - es handelt sich um Minakami -, bittet Kazu sie, ihn zu Ende zu schreiben, um Akari im Diesseits zu halten: "Diese Geschichte war jetzt sozusagen ihr restliches Leben." Die westlich-märchenhafte Story als Buch im Buch um eine Hexe, Prinzen und magische Perlen spiegelt die Rahmenhandlung als Parabel über gute und schlechte Geister, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Empathie und Überlebenswillen, das Zeitfenster unserer Existenz und den Wert zweiter Chancen.
Subtil verwebt Kashiwaba Erzählstränge der Binnengeschichte, in der ebenfalls ein ins Diesseits migriertes Geistwesen integriert wird, mit der Rahmenerzählung. So ist das Buch ein Lob der Solidarität zwischen den Generationen und der den Tod überwindenden Freundschaft. In einer rasanten übersinnlichen Schlussvolte verschwindet das Mädchen erneut, um, nunmehr diesseitserfahren, in Kanada aufzuwachsen und eines Tages eine "sichtbare" Familie zu gründen.
"Sommer in der Tempelgasse" ist eine wundervolle Parabel über Toleranz und Transzendenz und über das Glück auch und gerade in seiner Vergänglichkeit. Zu guter Letzt ist der Roman ein Lehrstück in Sachen Resilienz, Aufbegehren und der Selbstermächtigung der Kinder.
Sachiko Kashiwaba: "Sommer in der Tempelgasse".
Aus dem Japanischen von Luise Steggewentz. limbion books, Dießen 2024. 240 S., geb., 20,- Euro. Ab 10 J.
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