Besprechung vom 23.06.2025
Warum ist Oma so fies?
Sigrid Zeevaert lädt zur Schifffahrt ein
Vor Omas muss man sich im Allgemeinen nicht fürchten. Im Gegenteil: Bei ihnen darf man Süßigkeiten essen, unendlich lang Fernsehen schauen und all das tun, was Eltern nicht erlauben. Bei Oma Ella aber, das merkt Nuria schnell, weiß man nie. Oma Ella ist keine liebe Oma. Noch nicht mal eine ruppige. Eigentlich ist sie vor allem fies.
Sigrid Zeevaert hat schon mehr als dreißig Kinderbücher geschrieben, und vielleicht begründet sich auch darin ihr Mut, einen Hauptcharakter zu schaffen, der gänzlich unsympathisch ist. Ganz anders hingegen sieht es bei ihrer zweiten Hauptfigur aus, der acht Jahre alten Nuria, die dem Buch seinen Namen gibt und, hätte man sie vorher gefragt, ob sie Protagonistin werden möchte, mit ziemlicher Sicherheit gesagt hätte: Das traue ich mir nicht zu.
Schließlich hat sie schon genug andere Sorgen: Hunde, die ihr zu nahe kommen, zum Beispiel. Oder das Einmeterbrett, von dem sie im Schwimmunterricht springen soll. Oder die Aussicht, allein zu Hause zu sein. Daran allerdings muss sie sich wohl oder übel gewöhnen. Denn ihre Eltern arbeiten beide viel und haben wenig Zeit - und da bahnt sich schon die nächste Angst an: Trennen sie sich bald?
So zeigt Nuria tapfer Verständnis, als die beiden beschließen, nur zu zweit in ein Hotel am Meer zu fahren. Nuria soll derweil bei ihrer Oma unterkommen, die auch dank der schönen Illustrationen von Eleanor Sommer schnell scharfe Konturen annimmt. Sie trägt alte Bandshirts, ein Stirnband und ein hohes Maß an Missmut mit sich herum, das verdeutlicht: Auf Fernseher und Süßigkeiten muss Nuria gar nicht erst hoffen. Stattdessen erwartet sie ein Lastkahn namens Madame. Denn Oma Ella muss eine Fracht transportieren, und wenn ihr Enkelkind für die nächsten Tage bei ihr bleiben soll, muss es halt mitkommen: flussabwärts zum Hafen, den Sand abholen, und weiter zum Lieferort.
Nie gibt Zeevaert dabei Nurias Perspektive auf. Und so ist das Mädchen vor dem Ablegen auch nicht extrem nervös, sondern fühlt sich "wie noch nie". Sie denkt nicht in korrekten Genitiven, sondern in Bildern, als sie überlegt, warum sie nicht einschlafen kann: "Wegen dem Hotel. Und wegen dem Meer." Und dass es bei Oma Ella keine Süßigkeiten gibt, begründet sie nicht etwa mit der Schlussfolgerung, dass ihre Oma nur Selbstangebautes zu essen scheint, sondern damit, dass Chips und Schokolade in ihrem Garten nun mal nicht wachsen.
Was diese sehr authentische Erzählweise auch offenbart: Nuria fühlt sich oft einsam. Vieles macht sie mit sich selbst aus, ständig darauf bedacht, niemandem zur Last zu fallen. Doch so unsicher und bedrückt Nuria manchmal zu sein scheint, so schnell weiß sie sich auch zu begeistern. Wieder und wieder denkt sie auf dem Kahn darüber nach, wie schön die Natur, das Licht, das Wasser um sie herum sind. Und das, obwohl sie sich auf engstem Raum mit einem angsteinflößenden Hund und einer unfreundlichen Oma befindet. Die allerdings würde Nuria nie so bezeichnen, sondern in ausgeprägter Gutmütigkeit höchstens als: ein bisschen anders.
Oma Ella zeigt jedoch überhaupt kein Interesse an ihrer Enkeltochter, erwartet viel und fragt einmal sogar entnervt, ob Nuria überhaupt irgendetwas könne. Als die von ihrem selbst gemalten Bild erzählt, lacht sie. Nuria schluckt das alles herunter. Auch, weil sie feinfühlig genug ist, um zu merken, dass es für die Verbitterung ihrer Oma Gründe geben könnte.
Während die beiden also durch die Natur schippern, Schleusen durchqueren und auf alte und neue Bekannte treffen, wartet man nur auf den Moment, an dem Oma Ellas harte Schale endlich abfällt und einen weichen Kern zutage bringt. Bemerkenswerterweise bricht Zeevaert mit diesen Erwartungen. Oma Ella bleibt hart.
Wer sich - vielleicht auch gerade deswegen - wandelt, ist Nuria. Auf dem Frachtkahn lernt sie, für sich einzutreten - und bleibt dabei unerschütterlich gutherzig. Sie gewinnt an Mut, ohne plötzlich extrovertiert zu sein, gibt Widerworte, gerade indem sie ihre Ängste offenbart. Stück für Stück wächst sie über sich hinaus. Umso lieber begleitet man sie auf ihrem Abenteuer mit diversen Tieren, Wetterlagen und Naturspektakeln und freut sich mit ihr über jede überwundene Hürde. Ihren ganz großen Moment hat sie schließlich, als eine Katastrophe auf stürmischer See droht. Und während man es bei Oma Ella nie so genau weiß, ist bei Nuria fest davon auszugehen: Sie wird dem Sturm schon trotzen. ANNA NOWACZYK
Sigrid Zeevaert: "Nuria". Roman.
Mit Illustrationen von Eleanor Sommer. Tulipan Verlag, München 2025. 176 S., geb., 16,- Euro. Ab 8 J.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.