Besprechung vom 12.02.2025
Ein Epos, gespeist aus dem Archiv
Sofia Andruchowytsch vermag es, auf unsentimentale Weise ein ukrainisches Jahrhundert der Tränen zu vermessen.
Verfasser von Klappentexten für Sofia Andruchowytschs großes "Amadoka-Epos" sind nicht zu beneiden. "Sowjetukraine, 1934", beginnt die werbende Zusammenfassung von "Die Geschichte von Sofia": Dieser "dritte Band erzählt von der Vernichtung der ukrainischen Intelligentsia unter stalinistischer Herrschaft und von der schönen Sofia und ihrem mysteriösen Geliebten, dem Doppelagenten Mykola Zerow." Aus Zerow ist im Lektorat Serow geworden. Der brillante Gelehrte ist freilich weder Doppelagent noch Sofias Geliebter, sondern ihr Kiewer Ehemann; er wird in Stalins Gulag erschossen. Der Doppelagent und "mysteriöse Geliebte" der "schönen Sofia" heißt Wiktor Petrow. Die überbordende Erzählphantasie Sofia Andruchowytschs lässt offenbar, das tröstet den Kritiker, selbst Lektoren den Überblick verlieren.
Dafür stellt sich Berauschtheit ein, was angesichts des Stoffes sehr überrascht. Denn die noch recht junge ukrainische Autorin, Jahrgang 1982, erzählt von den grauenhaften Erfahrungen der Ukraine im 20. und 21. Jahrhundert. Das Original ist in einem Band erschienen, die Übersetzung in drei - nach der Invasion Russlands wollte der Residenz Verlag den propagandistischen Vereinfachungen schnell zumindest den ersten Teil des komplexen Werkes entgegensetzen. In "Die Geschichte von Romana" wird die Rahmenerzählung etabliert: Die Archivarin Romana glaubt, in einem Soldaten, der im Krieg in der Ostukraine seit 2014 das menschliche Aussehen und das Gedächtnis verloren hat, ihren verschwundenen Mann Bohdan zu erkennen. Sie holt "ihr persönliches Monster" aus dem Krankenhaus in die Datscha und erzählt ihm seine und ihre gemeinsame Geschichte, auf dass er wieder ihr Ehemann wird. Das "Amadoka-Epos" ist eine weibliche Variante des Pygmalion-Mythos.
Mit Bohdans Großmutter spricht das Epos im zweiten Band "Die Geschichte von Uljana" vom Holodomor, der von Stalin verursachten Hungersnot Anfang der Dreißigerjahre, von den massenhaften Judenmorden der deutschen Besatzer, ihren ukrainischen Helfershelfern und dem nationalistischen Widerstand gegen Nationalsozialisten wie Sowjets. Darauf folgt nun im dritten Band "Die Geschichte von Sofia" die erneute Eingliederung der Ukraine in das sowjetische Imperium: Nach dem Zweiten Weltkrieg wird die nationale Intelligenzija im Gulag ermordet. Mit Romana, Uljana und Sofia stellt Andruchowytsch drei Frauen ins Zentrum, um unsentimental und ohne Kitschanwandlung ein ukrainisches Jahrhundert der Tränen zu vermessen.
Die Leser schleudert sie hin und her, was zur Berauschtheit nicht wenig beiträgt. Nur drei, vier Seiten lang sind viele der Sequenzen, dann wechseln oft Zeit und Ort, Personal, Perspektive und Erzählstrang. Die helle Stirnlampe der Erzählerin reißt Situationen aus dem Zeitkontinuum, Zusammenhänge werden nur angedeutet. Eine punktuelle Nahsicht antwortet auf die gewaltige historische Stofffülle. Der Roman aufleuchtender Details springt immer wieder ins Präsens und seine Leser förmlich an, was auch das Verdienst der Übersetzungskunst von Alexander Kratochvil und Maria Weissenböck ist. Das "Amadoka-Epos", benannt nach einer Legende um einen verschwundenen See auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, beginnt als Familienroman und weitet sich zum modernen, kritischen Nationalepos eines in seiner Existenz gefährdeten Staates. Man kann mit weit weniger Ambition glorios scheitern - die Autorin aber wird mit diesem Werk endgültig aus dem Schatten ihres Vaters heraustreten, dem wohl bekanntesten ukrainischen Schriftsteller Juri Andruchowytsch.
Modern und kritisch ist das "Amadoka-Epos" nicht nur durch die fragmentierte und diskontinuierliche Erzählweise, die den Leser fordert, statt ihm Ewigkeitswerte unterzujubeln. Kritisch ist es auch im inklusiven Anspruch der kollektiven Überlieferung bei moralischer Ambivalenz: Minderheiten wie Juden und deutsche Siedler werden einbezogen. "Die Geschichte von Sofia" enthält Erzählungen über den legendären chassidischen Rabbi Baal Schem Tov und verschweigt nicht die ukrainische Beteiligung am nationalsozialistischen Judenmord.
Und schließlich speist sich das Epos aus dem Archiv: Die Archivarin Romana bezieht ihr Wissen über Bohdan vor allem aus vier Koffern, die er vor seinem Verschwinden im Krieg an ihrem Arbeitsplatz abgab. Das Archiv beherbergt auch Aufzeichnungen von Bohdans Vater, das Notizbuch von Pinkas, dem jüdischen Geliebten von Bohdans Großmutter Uljana, und die Briefe von Sofia und Petrow, die zwischen Kiew und Moskau beziehungsweise München hin- und hergehen. Andruchowytsch erzählt von den Liebenden mithilfe der überlieferten Papiere, sie verbindet Emotion und Institution - und verschweigt nicht die Möglichkeit, sich bei der Rekonstruktion zu irren. Oder bei der Identität Bohdans: Am Ende zweifeln nicht nur die Zuschauer einer Fernsehtalkshow und die Follower auf Facebook, ob Romana ihre und Bohdans Erinnerungen wirklich einem Ukrainer eingeflüstert hat. Und nicht einem Russen.
Ein Drama wäre das nicht. Im "Amadoka-Epos" sorgt die Liebe, nicht Blut, Mythos oder Ideologie für Zusammenhalt - jene Liebe, an der man entweder zugrunde geht oder aufblüht, Liebe, die im Würgegriff der Politik zappelt und zu verrecken droht. Handlanger der Politik sind die Schergen des sowjetischen Geheimdienstes NKWD, der in allen drei Bänden im Hintergrund die Fäden zieht. In "Die Geschichte von Sofia" denunziert er Sofias Ehemann Serow als ukrainischen Nationalisten und ermordet ihn nach der Deportation auf der Solowki-Insel. Der NKWD ist es auch, der Sofias Geliebten Petrow zur zwielichtigen Figur werden lässt: Er muss für die Sowjets wie für die Deutschen spionieren.
Alle Raffinesse und Erzählfreude kann allerdings nicht verhindern, dass manche Wendungen des Epos mindestens halsbrecherisch wirken und man sich im langen Mittelteil der "Geschichte von Sofia" zuweilen in einem anderen Buch wähnt. Der Ton ist distanzierter, die Rahmenerzählung der Gedächtnisrekonstruktion Bohdans durch Romanas Erzählungen recht unverbunden mit den Schicksalen von Sofia, Serow und Petrow. Dennoch bleibt deren Liebesgeschichte inmitten zerrüttender Verdächtigungen atmosphärisch dicht und kommt zudem ohne jedes Agentenanekdötchen aus.
Einer der labyrinthischen Epos-Pfade, die von der Erzählerin Stirnlampe aus dem Dunkel gerissen werden, führt in das 18. Jahrhundert zu dem Bildhauer Johann Georg Pinsel. Über ihn ist wenig bekannt, nicht einmal, ob er Deutscher, Österreicher, Pole, Italiener, Jude oder Ukrainer war. Seine Statuen haben jedoch in der Kirche des galizischen Butschatsch überdauert, wo Bodhan bei Großmutter Uljana aufwächst. Als sie Jahrzehnte später entdeckt werden, so erzählt dieses Mal Bohdan Romana, wollen die begeisterten Kunsthistoriker die Skulptur des heiligen Onufrij im Pariser Louvre ausstellen lassen. Die Kleinstädter und ihr Pfarrer fürchten jedoch, den Heiligen dauerhaft zu verlieren, und verstecken ihn in einem Hühnerstall. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion versucht Bohdan, die Statue zu entführen, und erkennt im letzten Augenblick, dass er zum Werkzeug des NKWD geworden ist. Andruchowytsch schildert den versuchten Kunstraub als kräftige Farce mit wütendem Federtier.
Ein Löwenkopf der Heiligenstatue bricht in dieser Nacht ab und taucht an verschiedenen Stellen des "Amadoka-Epos" wieder auf. Er erinnert an die unwiderstehlich auf jeden Betrachter wirkenden Figuren Pinsels, die sich sämtlich "in seelischer Qual oder vor exaltierter Freude" winden und verrenken. An dieser Kunst und ihrem Bild des Menschlichen hat Sofia Andruchowytsch Maß genommen für ihr beeindruckendes Epos. JÖRG PLATH
Sofia Andruchowytsch: "Die Geschichte von
Sofia". Das Amadoka-Epos, Bd. 3.
Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil und Maria Weissenböck. Residenz Verlag, Salzburg 2024. 686 S., geb.
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