Besprechung vom 25.08.2021
Verschwinde, vergessliche Welt
Irrtum als Eigenart: Steffen Menschings Gedichte
Hochkomplexe Konstellationen in literarische Miniaturen zu überführen ist eine Kunst. Steffen Mensching beherrscht sie. Liegt er uns allen nicht längst schon auf den Lippen - der Shitstorm-Blues: "du kennst ihn nicht, hast ihn nie gesprochen, getroffen, gesehen, du hasst ihn nicht, hast aber Angst vor ihm"? Hatte man angesichts der tiefgreifenden Verunsicherung zu Beginn der ersten Pandemiewelle nicht auch einen Hang zu imaginären Fensterdialogen: "Ich stehe am Fenster in der Nacht des neunzehnten März Zweitausendzwanzig und denke an dich, Paul, auf dem Pont Mirabeau, fünfzehn Meter über der Seine, und dein Gedicht Corona"? Gerade der Irrtum - Celan ist nicht am 19. März, sondern erst einen Monat später aus dem Leben geschieden - markiert die Eigenart von Menschings Schreiben. Sein Wissen stammt nicht aus dem Nachschlagewerk, sondern ist verdichtete und mithin verfälschte Erinnerung.
Mensching ist ein Kristallisationskünstler. Insofern ist er verwandt mit der Hauptfigur seines Monumentalromans "Schermanns Augen". Dort reichen dem titelgebenden Grafologen seinerseits wenige handschriftliche Zeichen, um in ihnen ganze Lebensschicksale zu erkennen. Allerdings erscheint es angesichts von "In der Brandung eines Traums" nicht zwingend, Mensching als Lyriker zu bezeichnen. Zugespitzt: Einen Gedichtband ohne ein einziges Gedicht zu schreiben, das muss man sich erst einmal trauen. Oder könnte irgendjemand sagen, wo bei "Ab und zu zwinge ich mich zur Langeweile" oder "Meine Eltern wurden immer kleiner, sie aßen immer weniger" die Verse brechen? (Sie tun es hinter "mich" und "immer".) Steffen Mensching schreibt Prosaminiaturen in Versform. In Anlehnung an Bert Brecht, Heiner Müller oder auch Robert Walser versteht er, bildsicher seine Pointe zu setzen. "Das Gedächtnis, sagt er, ist wie ein Kinderzimmer, ständig verschwindet etwas, etwas anderes taucht unverhofft wieder auf." Wohlgemerkt, nicht die individuelle Erinnerung, sondern das kollektive Gedächtnis kommt im Kinderzimmermodus daher, um hart mit dem direkt anschließenden Mikrogramm des Vergessens zu kontrastieren: "Vergessliche Welt auch du wirst verschwinden wie eine Wimper, die fällt."
Spezifisch ostdeutsche Traditionslinien blitzen auf, nicht zuletzt findet sich manche Spitze gegen die Besserwesserei: "Wenn man über die grünen Kuppen der Rhön fährt und bemerkt, die Straßen werden deutlich schlechter, weiß man, man ist im alten Westen." Die pointierte Beobachtung, der lockere Plauderton, die Achtung gegenüber großen Autoren (neben Volker Braun und Heiner Müller etwa auch Philip Roth), der Blick für die kleinen Leute kulminieren im Höhepunkt von Menschings Band: den vierundzwanzig "New York Lines". Sie setzen mit dem Selbstvorwurf ein: "Richtige Dichter erschössen sich sofort, du aber machst dir nur Gedanken." Mag sein. Aber als Leser weiß man Steffen Menschings Gedankengänge zu schätzen. CHRISTIAN METZ.
Steffen Mensching: "In der Brandung des Traums". Gedichte.
Wallstein Verlag. Göttingen 2021. 104 S., geb.
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