Keine Heldengeschichte, sondern ein Roman über die kleinen Leute am berühmten Semmering. Über Menschen, die die Nazis zwar verabscheuten, aber aus großer Angst dann beim Anschluss doch mit "Ja" gestimmt haben. Das Bild einer Gesellschaft zwischen 1928 und 1945. Die großen Linien der furchtbaren Zeitgeschichte muss man sich dazudenken. Im Roman geht es um das Leben und die Auswirkungen dieser Geschichte auf die Leute, die am Semmering wohnen, aber unterhalb der feinen Hotels und Villen. Worum geht es? Die Sorge um die jüdische Freundin, den Kampf ums tägliche Brot, die gehässige Nachbarin, die Sehnsucht nach dem eigenen Kind, die Empörung über den besoffenen Dorfschullehrer, um die Hakenkreuzler, Sozis und am Rand auch um die vornehmen Gäste hoch oben im Panhans oder im Südbahnhotel. Prominente Semmering-Bewohner wie Alma Mahler, Franz Werfel und die Besitzer des Loos-Hauses am Kreuzberg werden erwähnt, aber dabei bleibt es dann auch.
Tanja Paar erzählt zweistimmig: von hinten und von vorn. Der verkrachte Pianist und Hotelverwalter Szabo erinnert sich als alter Mann nach der Grenzöffnung 1989 an seine Zeit am Semmering, die tragische Beziehung zur jüdischen Köchin Rahel und die Freundschaft mit dem Fahrdienstleiter Bertl und seiner Frau Klara. Seine Rückschau kontrapunktiert Klaras dominante Perspektive: sehr nahe am mündlichen Erzählton, manchmal auch fast im inneren Monolog mit Satzabbrüchen und Wiederholungen. Die Tochter eines Flickschusters aus Böhmen, geboren in der Wiener Vorstadt, hat den Eisenbahner und Sozi Bertl geheiratet. Er schafft den Aufstieg vom Wagenputzer zum Fahrdienstleiter. Sie kümmert sich um den Haushalt in einer Zeit, in der beinahe jedes Gramm Mehl und jede Tasse Milch wertvoll sind. Kunststücke sind zu vollbringen, um beide satt zu bekommen. Sie sind Außenseiter; er einer, von dem die Leute nicht wissen, ob er ein Sozi ist, sie eine mit feinen Schuhen und dem Klavier in der Stube. Dazu liest sie Zeitung und tarockt auch noch klassenübergreifend mit dem Ehemann, der Freundin Rahel, dem Pianisten und einem Ex-Baron. Bis es nicht mehr möglich ist: Erst ist der Ex-Baron im "Anhaltelager" verschwunden, später die Freundin deportiert. Spätestens als die Russen an den Semmering kommen, wird es auch für Klara lebensgefährlich.
Tanja Paar hat die Konturen ihres Romans der Lebensgeschichte ihrer Großeltern entnommen und zu einem Roman verdichtet. Mit großen Gespür findet sie den richtigen Tonfall und malt Bilder für den Kopf. Manchmal mag die Gutherzigkeit und Naivität der Hauptfigur zwar eine Idee "drüber" sein, man möchte sie ihr aber gern glauben, besonders wenn sie so frech daherkommt:
"Weil sie war sicher, dass es ein Mädchen werden würde. Das sagte sie dem Bertl nicht mit seiner blauen Wiege. Aber sie war gewiss. In so einen Krieg hinein konnte man nur ein Mädchen auf die Welt bringen. Zur Sicherheit betete sie dafür jeden Tag. Sie zündete der Maria zu Hause neben dem Bett jeden Tag auf dem Nachtkastel ein Kerzerl an, aber der evangelischen! Mit der katholischen war sie fertig, ein für alle Mal."
In der Danksagung erwähnt die Autorin den Ausgangspunkt ihrer Geschichte: "ein Scheitel - eine Perücke wie sie orthodoxe Jüdinnen tragen, wenn sie verheiratet sind unter einer mysteriösen Porzellanpuppe." Die Teepuppe mit dem ausladenden Rock gehört im Roman der jüdischen Köchin Rahel. Ihre einzige Hinterlassenschaft.
Eine Leseempfehlung für alle, die an leicht lesbarer Zeitgeschichte von unten interessiert sind und sich nicht scheuen, auch mal ein paar Ausdrücke nachzuschauen. Ich weiß jetzt jedenfalls, was eine Bassenawohnung ist.