Besprechung vom 18.09.2024
Arbeit an den Raketen in den Stollen von Dora
Die "Straßburger Zeitzeugenberichte" erscheinen in einer deutschen Auswahledition
Nur wenige Monate nach seiner Befreiung durch amerikanische Truppen verfasste der französische KZ-Überlebende und Résistance-Angehörige David Rousset einen Bericht über die Zeit seiner Internierung in verschiedenen deutschen Lagern. Seine Erinnerungen erschienen 1946 in Paris unter dem Titel "L'Univers Concentrationnaire". Ins Deutsche übertragen wurde Roussets Buch erst mehr als siebzig Jahre später (F.A.Z. vom 25.1. 2020). Eine ganz ähnliche Publikationsgeschichte weist auch die erste Gesamtdarstellung des nationalsozialistischen Judenmordes von Léon Poliakov auf, die als "Bréviaire de la haine. Le IIIe Reich et les Juifs" im Jahr 1951 zuerst auf Französisch erschien. Auch in diesem Fall brauchte es sieben Jahrzehnte, bis eine deutsche Übersetzung vorlag (F.A.Z. vom 26. 10. 2021).
Nun wird die lose Reihe der spät ins Deutsche übertragenen französischen Originalausgaben mit den 1947 erstmals herausgegebenen "Témoignages strasbourgeois" fortgesetzt. Die "Straßburger Zeitzeugenberichte" sind eine Sammlung von Texten, die Studenten, Mitarbeiter und Professoren der Universität Straßburg unmittelbar nach ihrer Befreiung aus deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern verfasst haben. Die Initiative zu der damals im universitätseigenen Verlag erschienenen Publikation mit dem Titel "De l'Université aux Camps de Concentration" ging seinerzeit von dem in Straßburg lehrenden Religionshistoriker Prosper Alfaric aus, dessen Vorwort in der deutschen Ausgabe leider fehlt, obwohl es einiges über die Entstehungshintergründe des ungewöhnlichen und später in Frankreich viel rezipierten Bandes verrät. Von den vierzig Beiträgen der gut sechshundertseitigen französischen Originalausgabe sind aber ohnehin lediglich vierzehn in die deutsche Ausgabe aufgenommen worden, darunter alle, die aus den Lagern Buchenwald und Dora berichten. Denn die "Témoignages strasbourgeois" sind der Auftakt einer von der "Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora" herausgegebenen Buchreihe mit Berichten und Dokumenten zur Geschichte der beiden Lager.
Das in der Lagerliteratur wohl einmalige Textkonvolut aus Berichten von Angehörigen einer einzelnen Universität erklärt sich mit der besonderen Stellung der Université de Strasbourg im französischen Widerstand gegen die deutschen Besatzer. Als einzige Universität Frankreichs wurde sie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges von der französischen Regierung mit der höchsten Auszeichnung für Verdienste im Kampf gegen den Nationalsozialismus geehrt. Aus der 1939 ins zentralfranzösische Clermont-Ferrand verlagerten Hochschule waren seit 1943 weit über hundert Universitätsangehörige festgenommen und in deutsche Lager verschleppt worden. Nur etwa die Hälfte überlebte - auch dank der Solidarität, die zwischen den Akademikern aus Frankreich in den Lagern gelebt wurde. Als geschlossene Gruppe definierten sich die "Straßburger" aber erst in den Jahren nach ihrer Befreiung.
Der Quellenwert ihrer oft detaillierten und eindrucksvollen Berichte liegt vor allem in der wissenschaftlichen Perspektive, die die Autoren je nach akademischer Profession auf spezifische Aspekte ihrer Lagerhaft werfen. Der Medizinstudent Georges Greiner, der im Juni 1943 in seinem Studentenwohnheim verhaftet und Ende Oktober nach Buchenwald deportiert wurde, berichtet von seiner Arbeit als Pfleger in der Krankenstation des Lagers, die dem "Geist der SS nach zum Töten und nicht zum Heilen da" war, wie Greiner sich erinnert. Der Medizinprofessor Robert Waitz wiederum erzählt von den mörderischen pseudomedizinischen Experimenten an Häftlingen in Block 46 des Lagers, der Chemieprofessor Albert Kirrmann von seinem Einsatz in den blank gewienerten Laboren in Block 50, dem "Hygieneinstitut der SS", in dem Versuche zur Herstellung eines Fleckfieberimpfstoffes für die deutschen Armeen im Osten durchgeführt wurden.
Wie nah die Ereignisse zum Zeitpunkt des Abfassens der Berichte noch zurücklagen, macht die Verwendung der Zeitform des Präsens in vielen der Erinnerungen deutlich, etwa in der Schilderung "dantischer Szenen" des Linguisten Georges Straka bei seiner Ankunft in Buchenwald im Januar 1944. Im längsten Beitrag des Bandes berichtet der Physikprofessor Charles Sadron von seiner Arbeit in der "Fabrik von Dora" an der Herstellung von Geheimwaffen und dem Dilemma, vor dem er als Häftling stand, an einer Waffe mitzuarbeiten, die den Krieg verlängert und die eigene Befreiung verzögert, oder die Mitarbeit zu verweigern, damit aber das eigene Leben zu riskieren und das Ende des Krieges vielleicht nicht mehr zu erleben. Sadron entschied sich für den Ausweg der Sabotage und manipulierte im Rahmen seines Einsatzgebietes die Qualitätsprüfung, um massenhaft fehlerhafte Bauteile der V2 durchzuwinken, "bei denen ich mir gerne ausmale, was für spektakulär abstruse Flugbahnen sie reihenweise bei ihren V2 verursacht haben".
Einen Schatten auf die abgedruckten Berichte wirft jedoch die taktlose Einleitung der Herausgeber, in der diese in zeitgeistiger Pose auf "rassistische Vorurteile" in den fast achtzig Jahre alten Darstellungen der KZ-Überlebenden hinweisen. "Fast alle" Beiträge enthielten Ressentiments gegenüber anderen Häftlingen, darunter vor allem gegenüber den als "Berufsverbrecher" Verfolgten. Vor zwei Beiträgen wird ausdrücklich wegen ihrer antisemitischen und antiziganistischen Vorurteile und anderen "abwertenden Zuschreibungen" gewarnt, die man sich "selbstverständlich nicht zu eigen" mache. Doch damit ist der Belehrung des vermeintlich unbedarften Lesers nicht genug: Am Beginn der beiden Berichte weist eine Fußnote nochmals auf die "Vielzahl diskriminierender Begrifflichkeiten" und "Verurteilungen" im Hinblick auf andere Opfergruppen hin. Wenn man sich derart billig von den eigenen Autoren distanziert, sollte man sich vorher überlegen, ob man deren Berichte veröffentlicht, und nicht auf Kosten von Lagerüberlebenden die eigene vermeintliche moralische Überlegenheit zu demonstrieren versuchen. RENÉ SCHLOTT
"Témoignages strasbourgeois". Berichte französischer Überlebender der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora
Hrsgg. v. A. Dremel, M. Löffelsender, J.C. Wagner. Wallstein Verlag, Göttingen 2024. 389 S., geb.
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