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Besprechung vom 16.01.2023
Warum Menschen aufbrechen
Migration verändert Heimat- und Zielländer
Wo man als Kind zur Welt kommt und später lebt, erachtet der Bielefelder Soziologe Thomas Faist als äußerst wichtig für das eigene Schicksal. Weil vor allem viele Menschen auf der Südhalbkugel zu wenig Möglichkeiten für ihre Zukunft sehen, verlassen immer mehr ihre Heimat und suchen ihr Glück dauerhaft in der Fremde. Was das für ihre Herkunftsregion bedeutet und was der Aufbruch mit den reichen Zielländern im globalen Norden macht, thematisiert Faist in seinem neuen Buch. Als Titel für seine Analyse, warum Menschen aufbrechen, hat er "Exit" gewählt.
Das englische Wort steht für Abfahrt oder Ausfahrt, Abgang oder Ausgang, in der Medizin mit lateinischer Endung auch für Tod und Sterben. Faist bezeichnet mit dem Terminus "die Entscheidung, die eigene Heimat zu verlassen, weil es dort keine Perspektive mehr gibt". Er wertet die Wanderungsbewegungen vom Süden in den Norden, besonders die Abwanderung aus verarmten, klimageschädigten Gebieten auf dem afrikanischen Kontinent, als "postkolonialen Fluss in die umgekehrte Richtung" und als drängendstes politisches Phänomen unserer Zeit. Besonders im globalen Süden sei der Aufbruch in die Ferne zur Alternative für sozialen Protest geworden und entwickele sich damit zum Treiber neuer Konflikte sowohl in ihrer Heimat wie in den Ankunftsnationen. Die Aufsplitterung der europäischen Parteienlandschaft habe damit ursächlich zu tun. Ebenso die immer rigideren Maßnahmen dort gegen Migration, die das soziale Gefälle zwischen Nord und Süd verschärften, statt es zu mildern.
Faists Publikation basiert auf seiner vor drei Jahren bei Oxford University Press veröffentlichten Studie "The Transnationalized Social Question: Migration and the Politics of Social Inequalities in the Twenty-First Century". Sein neuer Text stellt Migration bewusst in einen breiteren Zusammenhang der Sozialstruktur und der Politik sozialer Ungleichheiten. Die transnationalisierte soziale Frage betrachtet er als den zentralen Konflikt unserer Tage, der sich auf ganz verschiedenen Ebenen abspiele.
Faist warnt vor der einfachen These einer immer stärker werdenden Massenemigration. Die Hintergründe handelt er in drei Teilen ab. Im ersten umfangreichsten geht es historisch und theoretisch um globale Migration. Der zweite Teil äußert sich zur sozialen Frage. Der dritte Teil paart Wanderungsbewegungen mit den aktuellen ökologischen Herausforderungen. Gefragt wird auch danach, welche Arten sozialer Ungleichheiten die Migration überhaupt antreiben, inwiefern sich in den letzten beiden Jahrhunderten die Reaktion von Menschen und Gruppen auf soziale Ungleichheiten gewandelt hat und inwiefern sich die soziale Sicherung verändert. Zudem geht es darum, wie sich politische Konflikte um Klasse und Kultur in den Herkunfts- und Zielländern äußern. Und - ganz aktuell - wie der Zusammenhang zwischen Klimawandel, Umweltzerstörung und Migration verständlich gemacht werden kann. Das Schlusskapitel will in Thesenform aus Sicht der Migrationsforschung eine neue, faire Politik befördern, mit der Mobilität über Grenzen hinweg für alle Beteiligten Gewinn bringt.
Lebensgeschichten, Erfolge und Nöte einzelner Migranten sucht man in Faists Buch vergebens. Auch auf Panikmache wird verzichtet. "Schreckensszenarien" seien nicht der Grund, warum er "Exit" geschrieben habe, sagt der Autor. Die Zahlen von Migration und Flucht, die in der Politik genannt würden, seien oft übertrieben und begrifflich schief. Faist spricht von 280 Millionen Menschen, die im Jahr 2020 weltweit über Staatsgrenzen hinweg emigrierten. Der Anteil von Migranten und Migrantinnen an der Weltbevölkerung sei damit von 2,5 Prozent im Jahr 1960 auf 3,6 Prozent gestiegen. Die Quote grenzüberschreitender Migration habe sich in der letzten Zeit bis Mitte der 2010er-Jahre kaum verändert: "Seit 1990 wurde etwa 1,1 bis 1,3 Prozent der Weltbevölkerung über Grenzen hinweg mobilisiert. Dieser Anteil ist relativ stabil geblieben."
Global gesehen scheint relative Immobilität innerhalb des Wohnlandes die Regel. Offenbar bildet auch Europa keineswegs den zentralen Fluchtpunkt grenzüberschreitender Mobilität und Migration: "Die größten grenzüberschreitenden Bewegungen gab es zwischen Südasien und Westasien, insbesondere aus Südostasien in die Staaten am Persischen Golf, von Lateinamerika nach Nordamerika und innerhalb Afrikas." Die aktuelle Lage verschiebt allerdings etwas das Bild: "Die Fluchtemigration innerhalb von Europa hat seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine (2022) einen Umfang angenommen, der in der jüngeren Vergangenheit noch am ehesten mit Flucht und Vertreibung direkt nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichbar ist."
Faists 400 Seiten, davon allein 56 am Ende dicht gedrängt mit Anmerkungen, sind sprachlich wie inhaltlich akademisch orientiert und damit nicht unbedingt süffig zu lesen. Die komplexen Darlegungen zeigen, wo die junge Migrationsforschung Ansatzpunkte sucht, um dem breiten öffentlichen Interesse an den Ursachen globaler Fluchtbewegungen begegnen zu können. Bislang scheinen die Ausgangspositionen noch eher kontrovers. Thomas Faist denkt vergleichsweise moderat, wenn er Migranten als Personifizierung der sozialen Frage im 21. Jahrhundert charakterisiert und dazu festhält: "Über die Migration wandert die globale Dimension sozialer Ungleichheit in den Wohlfahrtsstaat ein." ULLA FÖLSING
Thomas Faist: Exit. Warum Menschen aufbrechen. Globale Migration im 21. Jahrhundert. C. H. Beck Verlag, München 2022, 400 Seiten
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