Besprechung vom 05.06.2025
Ausbruch auf die dunkle Seite
Schlicht, aber voller Finesse: Der Roman "Es gibt kein Zurück" von Ulf Erdmann Ziegler erzählt von dem, was einer ist, und dem, was einer schreibt.
Die Frage nach seiner dunklen Seite bringt den Mann mit der hellen Stimme aus dem Konzept. Und Aldus Wieland Mumme - so wird uns der Radioessayist auf Zeile sechs dieses Romans vorgestellt - ist ein Mann mit heller Stimme. Nachdem Mumme auf dem Weg in den vorhersehbaren, aber verdrängten Ruhestand der Verführung erlag, seine Autobiographie zu schreiben, sieht er sich lauter Fragen von Sine ausgesetzt. Sine ist, anders als Siri, ein Echtmensch, Mitte zwanzig und Hospitantin bei einer Buchagentur. Mumme macht beim Genrewechsel vom Essay zur Autobiographie Vorruhestandserfahrungen im betreuten Schreiben. Sie sind, das lässt der Autor Ulf Erdmann Ziegler durchblicken, für Mumme ebenso angenehm wie verstörend.
"Sie beobachten, Sie benennen problematische Dinge, ziemlich tief sogar - sehr tief, meine ich -, aber Sie lassen das Dunkle aus", sagt Sine ihm am Telefon. "Bitte nehmen Sie mir das nicht übel, wenn ich jetzt ganz frei assoziiere, aber es gibt in Ihrer Radiosoziologie immer noch den Horizont der Machbarkeit. Nein, nicht der Machbarkeit, sondern des Machbaren. Sie sortieren gewisse Tendenzen aus, aber Sie killen niemanden." Sine beschreibt damit das elliptische Verfahren des Essayisten Mumme, der dunklen Seite keine Stimme zu geben, erst recht keine helle.
Sie beschreibt damit zugleich das Verfahren des Autors Ziegler, der vom finalen Ausbruch Mummes erzählt, einem Ausbruch aus wohltemperierten Alltagsroutinen von journalistischer Arbeit, Spaziergängen mit dem Hund Pinkus, verlässlicher Empathie seiner Frau, der Politikerin Brita Lydén, und einem Wohlstandsalkoholismus, den Mumme im Griff zu haben glaubt. Es wird ein Ausbruch auf die dunkle Seite werden, von dem Mumme bis kurz vor Schluss nichts ahnt, den Ziegler nur sparsam - aber gekonnt spannungssteigernd - andeutet und für den sich der Leser am Ende selbst Erklärungen zusammensuchen muss.
"Es gibt kein Zurück" ist ein Buch, das man wegen der Schlichtheit seines Stils schnell unterschätzt. Dieser Roman über einen langsam aus der Zeit fallenden, dabei tief sympathischen alten weißen Mann (AWM sind auch seine Initialen) hat Finesse. "Es gibt kein Zurück" lautet der Titel des Buches, das Mumme schreiben soll. Was wir lesen, ist das Buch, das Mumme nie schreiben wird. Mummes Geburtsjahr ist 1959, wie das Zieglers. Berühmt wurde er durch eine Radioglosse über Woody Allen und Mia Farrow, denen Ziegler früher auch schon einen Essay gewidmet hat. Mumme lebt in Berlin, wo Ziegler lange Kunstredakteur bei der "taz" war; Mumme erinnert aber auch an Gerhard Mumme, den langjährigen Chefredakteur der "Frankfurter Neuen Presse" und somit an Frankfurt am Main, wo Ziegler heute lebt. Und Aldus mag eine Referenz an die "Schöne neue Welt" von Aldous Huxley sein: Die neue Welt, der Mumme langsam entgleitet, empfindet er selbst nicht als schön.
"Es gibt kein Zurück" entfaltet in der Erzählung selbst wie im autofiktionalen Spiel den beziehungsreichen Unterschied zwischen dem, was einer ist, und dem, was einer schreibt. Die Erfahrungen im Kreis um den Berliner Soziologen und Essayisten Michael Rutschky, das Erschrecken über dessen von Kurt Scheel postum herausgegebene Tagebücher, die eine sehr dunkle Seite des Menschen enthüllten, sind hier ohne Groll und Ranküne zu einem Stück mühelos wirkender Literatur sublimiert. Hier wird nirgends abgerechnet. Gelassene Heiterkeit ist der Grundton des Buches. Der leise Schock vor den Lebenslügen guter Freunde in Südfrankreich, vor dem Kulturwandel im Deutschlandfunk, der hier "Bundesradio" heißt, vor der Verrohung der Sitten im Straßenverkehr, die sich bis ins Design der Automobile niederschlägt, bleibt ins fast Ungesagte verbannt. Alles wird beiläufig mit "dem schwebenden Blick" des Essayisten gestreift. Dass dieses Erschrecken doch Tiefenwirkungen hat, bemerkt man schmerzhaft am Ende.
Der Roman inszeniert Verbindung und Trennung von Protagonist und Autor. Das Buch exerziert ein Misstrauen gegen "Narrative" durch, gegen deren vermeintlich heilende Kraft durch Sinnstiftung, und greift noch einmal Pierre Bourdieus These von der biographischen Illusion auf. Literarisch stark gemacht werden hier eine Sinn zerstörende Kontingenz und ein sich selbst nicht durchsichtiges Bewusstsein. Aber das alles geschieht unter einer sprachlichen Oberfläche, die so still wirkt wie die Bilder von Edward Hopper. Sie tauchen - als Todesboten - kurz im Buch auf. Alles Snobistische, Gedrechselte, Renommiersüchtige in Stil und Belesenheit hingegen wird von Ziegler vermieden zugunsten einer Einfachheit, die liebenswert wehrlos durch Sprache und Leben tapst. JAN BRACHMANN
Ulf Erdmann Ziegler: "Es gibt kein Zurück". Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2025.
216 S., geb.
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