Besprechung vom 19.12.2024
In Vermont hat dieser Prospero keine Chance
Wo ist Deena Garvey? Una Mannions Roman "Sag mir, was ich bin" erzählt meisterlich von der Suche eines Mädchens nach seiner verschollenen Mutter.
Namen wie hingewürfelt oder gepaart, Ruby Chevalier und Nessa Garvey, in unregelmäßigem Wechsel mit Jahreszahlen zwischen 2018 und 2004 sowie spärlichen Ortsbezeichnungen wie "Die Inseln, Vermont" oder "Philadelphia" signalhafte Kapitelüberschriften bildend, so präsentiert sich Una Mannions nach "Licht zwischen den Bäumen" zweiter Roman, "Sag mir, was ich bin". Diese Aufforderung, abgeleitet von Prosperos Wort zu seiner Tochter Miranda in Shakespeares letztem Drama "Der Sturm" ("Dich, die Tochter, die du nichts von dem weißt, was du bist"), könnte man auch an den Roman selbst richten.
Man kann ihn nämlich als ein vielschichtiges Psychogramm lesen, als die Verfallsgeschichte einer Familie, als Spurensuche, die einer Verschollenen namens Deena Garvey gilt, Rubys Mutter und Nessas Schwester, oder als einen Kriminalroman. Denn es wird sich am Ende der privaten und polizeilichen Untersuchungen herausstellen, dass Nessas Vermutung zutraf: Ihre psychisch belastete, von häuslicher Gewalt von ihrem Partner Lucas Chevalier gepeinigte Schwester war einem Verbrechen zum Opfer gefallen, verübt von Lucas. Er lebt der Bedeutung seines Nachnamens zuwider; denn ritterlich ist an ihm nichts. Er ist ein Manipulator, der Deenas Verschollensein inszenierte, mit seiner Tochter Ruby zu seiner Mutter, Clover, auf die Parzelle "Die Inseln" in Vermont zieht, Naturverbundenheit predigt und das städtische Leben in Philadelphia verflucht. Er ist ein Verwandter von Shakespeares Prospero, der, wenn auch vergeblich, seine Tochter Ruby von der urbanen Welt zu isolieren versucht.
Der amerikanisch-irischen Autorin Una Mannion, aus Philadelphia stammend, im irischen County Sligo ansässig, ist ein meisterlicher Roman gelungen, dem die Übersetzung von Tanja Handels vollauf gerecht wird. Was "meisterlich" hierbei bedeutet, illustriert zum Beispiel die nie aufdringliche, aber zwingende Art, in der sich im Roman literarische Bezüge herstellen - neben jenem zum "Sturm" Shakespeares Verweise auf Robert Frost in Deenas Tagebuch und seinen Vers: "In Liebe lag ich mit der Welt in Streit" oder auf Walter Benjamins Interpretation von Paul Klees "abstrakter Tuschezeichnung" des "Angelus Novus", die für Nessa wesentlich wird; denn sie fühlt sich wie dieser "neue Engel" zwischen "Vergangenheit und Zukunft gefangen".
Unausgesprochen steht zudem Kafkas "Amerika"-Fragment "Der Verschollene" über der Gesamtdisposition von Mannions Roman. Denn nicht nur das Opfer, Deena, wird zu einer Verschollenen; auch Ruby soll nach dem Willen des tyrannischen Vaters Lucas der Welt abhandenkommen. Lucas ist ein Spurenverwischer, von Berufs wegen ein Spezialist für Softwaresicherheit. Nachdem er sich mehrfach an Deena vergangen hatte, zuletzt mit dem für sie tödlichen Ausgang, nahm er die damals dreijährige Ruby in eine Art Isolationsverwahrung. Später dann erteilte er seiner sich als hochbegabt erweisenden Tochter den Unterricht zu Hause. Die Schilderung der für Ruby dann aber nur mühsam zu meisternden Stufen ihrer schulischen Sozialisation, die das Erziehungsamt gegen Lucas durchsetzte, gehört zu den Höhepunkten dieses Romans; zeugt sie doch von außergewöhnlichem pädagogischen Einfühlungsvermögen dieser Erzählerin.
Allen diesen plastisch vorgeführten Personen eignet etwas Manisches, wobei die Konstruktion des Romans geschickt nur eben Ruby und Nessa für wert hält, den einzelnen Kapiteln vorzustehen. Dadurch entsteht eine wechselperspektivische Sicht auf das Geschehen, das im Leser zunächst leichte Verwirrung auslöst. Zuweilen ist es, als tanzten diese beiden Namen und mit ihnen Nichte und Tante ein Pas de deux, das durch die vielfach gebrochene Handlung führt.
Doch das ist kein schwebender Tanz, sondern eine Doppelbewegung, die immer wieder neu ansetzt. Denn hinzu kommen die meist abrupt unterbrochenen Erzählzeitschienen: Es geht beständig vor und zurück, aber ohne ein dabei erkennbares Muster. Quasi filmische Vor- und Rückblenden, Schnitte, als habe der Roman bereits seine Verfilmung im Blick, was nicht verwerflich ist, sondern einträglich wäre. Aber er braucht sie gar nicht, diese filmische Umsetzung; denn die Bildkraft dieser Sprache, vor allem in den Naturszenen Vermonts, zeigt dem Leserauge, wonach es verlangt: die Natur als scheinbare phasenweise Erholung von der Gespanntheit der Handlung. Doch lauert gerade in der Natur der tödliche Vorverweis: die Schülerin Ruby. Als Projekt für den Naturkundeunterricht bringt sie wie selbstverständlich den Sporenabdruck des hochgiftigen Todesengelpilzes, der Amanita bisporigera, mit in die Schule, den sie mit ihrem Vater Lucas entdeckt hatte.
Was in diesem Roman zählt, ist das Wechselspiel von Erhellung und neuerlicher Verdunkelung der Zusammenhänge, in dem sich wiederum der Leser ebenso gefangen sieht wie Nessa zwischen dem Gewesenen, also ihrer sich zuletzt als zutreffend erweisenden Deutung des Tathergangs, und dem Künftigen, einer für alle unbestimmbaren Zukunft.
Nur eines zeichnet sich dabei deutlich ab: Jeder Beteiligte geht aus dieser Geschichte als ein Verstörter hervor - ihre Leser auch. Eine solche Verstörung aber bereichert. RÜDIGER GÖRNER
Una Mannion: "Sag mir, was ich bin".
Roman.
Aus dem Englischen von Tanja Handels. Steidl Verlag, Göttingen 2024. 304 S., geb.
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