Über das Lieben und Hoffen von Menschen, die im Schatten stehen
Ein schläfriges Dorf am Fuß der Beskiden, ins Licht der Sommermonate getaucht. Freunde, die sich aus der Schule kennen, gehen auf Arbeitssuche, zwei schon mit dem Tod im Herzen. Ein kleines Mädchen steht seiner Großmutter beim Sterben bei, ohne es zu wissen. Eine unverheiratete junge Frau, die als einzige im nahegelegenen Städtchen zur Schule gegangen ist, will mehr vom Leben, als es ihr bieten kann. Sie alle, die mit existentiellen Krisen zu kämpfen haben, lassen mit ihrer je eigenen Stimme ein erzählerisches Mosaik aus dreizehn miteinander verknüpften Geschichten entstehen.
Im Dorf herrschen namenlose Ängste, die an Vergangenes rühren, aber auch Freundschaft, Empathie und Verbundenheit mit allem Lebendigen. Urszula Honek verfügt über eine ungemein reiche sprachliche Palette an Farben und Registern, um den sehnsüchtigen, traurigen, liebenden Menschen eine Aura zu geben. Eingebettet in die menschenleere, hügelige Waldlandschaft mit ihrer Stille und ihrem Licht verleiht sie ihnen eine ganz eigene Transzendenz.
Besprechung vom 02.04.2025
Die Welt wird rot, als hätte sie Feuer gefangen
Menschlichkeit und Unmenschlichkeit in einem polnischen Dorf: Urszula Honeks subtil konzipierter Episodenroman "Die weißen Nächte"
"Von Kind auf habe ich mich im Grab gesehen", sagt Hanna, größte und schönste der drei Schwestern, "nur den Sarg habe ich mit der Zeit vergrößert." Hanna hält den Tod "seit langem an der Hand" und wird mit ihm gehen, "soll es doch still werden, das war immer meine Ansicht". Andere Figuren in Urszula Honeks Roman "Die weißen Nächte" spazieren mit dem Tod sogar "Arm in Arm". Sie sind mit ihm vertrauter als mit Tieren und Nachbarn im Dorf Binarowa in den Hügeln der Niederen Beskiden. Eine archaisch anmutende Ergebenheit gegenüber dem eigenen Schicksal vermählt Honek auf berückende Weise mit Wahrnehmungen der Landschaft im Südosten Polens, die von großer elegischer Schönheit sind.
Ihr Personal existiert hier wie dort. Mira, die Jüngste der Koniecznys, geht nachts aus dem Haus, um zu sehen, "ob der Schnee im Dunkeln weißer ist", und kommt nicht wieder. Ihre Schwester Zosia bindet des Öfteren auf Zehenspitzen stehend einen unsichtbaren Knoten über dem Kopf und zudem eine Schlaufe "mit sicheren, langsamen Bewegungen um den Hals, damit der Strick hält, wenn ich es will". Zosias Verlobter Franek ist verschwunden, weil er, so glaubt sie, den Toten zu nah gekommen ist: Er hat die vom Blitz getroffene Eleonora aus dem abgebrannten Haus der Nachbarn getragen. Dann gibt es noch Andrzej, der von einer weiteren Konieczny-Tochter träumt und mit ihr spricht, sobald er die Augen schließt. Auch die Fünfzehnjährige war eines Tages verschwunden. Sie wurde im nahen Gorlice gefunden, nackt und mit dem Gesicht zur Erde.
So durchlässig die Grenzen zwischen Leben und Tod in diesem "Roman in 13 Geschichten" auch sind, alles in ihm trägt sich auf engstem Raum zu. Das Dorf hat wenige Häuser und Bewohner. Der Dorfnarr heißt Pilot, weil er immer in die Luft guckt. Manche haben wie Andrzej eine Sau und eine Kuh, andere noch ein Pferd oder ein Lamm, lebendig oder schon in Wurstform. Urszula Honek erzählt elliptisch und mit vielen Stimmen in mikroskopischer Nahsicht. Behänd wechseln Erzählperspektiven, Situationen und Zeiten, und ihre Montage scheint das Gesagte mit dem Ungesagten zu verbinden.
Der beschränkte dörfliche Raum wird in die Zeiten hinein geweitet: Die kleine Anielka erzählt von Opa Jan, der die Deutschen mit der Mistgabel verjagt hat, und von Jans Nachgeborenen, ihren Eltern, deren ganzer Stolz eine neue Holztäfelung ist. Die alte, heißt es verächtlich, hatten "die Rothaarigen" als Vorbesitzer "verdreckt und sind in die Ferien gefahren, die Fische von unten fangen". Mit den Rothaarigen sind die Juden gemeint. Was ihnen geschehen ist, weiß der vom Kind nachgeplapperte Antisemitismus.
Die dreizehn Geschichten ergeben einen Roman, weil sie auf diskrete, anfangs leicht zu übersehende Weise miteinander verwoben sind. Einige Figuren des Prosadebüts tauchen schon in den drei mit Preisen ausgezeichneten Gedichtbänden der 1987 geborenen Autorin auf, wie polnische Kritiker bemerkt haben. Deren Geschichten will Urszula Honek den Menschen in ihrem Dorf abgelauscht haben. Sie erschafft ein Geschichtengestrüpp, in dem die Chronologie aufgehoben ist. In der ersten Erzählung wird Andrzejs Freitod erwähnt, in der letzten erst wirft er das Seil über einen Ast des höchsten Baums.
Dieses oder jenes habe sich, heißt es zwei-, dreimal, vor zwanzig oder dreißig Jahren ereignet. Man liest es staunend, denn erzählt wird voller Intensität, als geschähe es just in diesem Augenblick, und so ist es ja auch für die, die nicht darüber hinwegkommen. Solange erzählt wird, ist der Tod fern. Daher fürchten sich manche vor der Stille und der Dunkelheit, in der alles zu verschwinden droht.
Einsam sind fast alle Protagonisten in diesem polnischen magischen Realismus voller Halluzinationen, Träume und Sehnsüchte, den Renate Schmidgall glänzend übertragen hat. Paare gibt es nur als Eltern; Familien, Vereine, die Dorfgemeinschaft spielen keine Rolle. Statt der Lebenden begleiten die Menschen die Toten. Trost spenden allerdings Licht und Dunkelheit in der Natur: "Die Sonne geht hier langsam unter, nicht, dass es ruck zuck dunkel wäre und man die Hand vor den Augen nicht mehr sieht. Am Anfang verschwinden die Bäume in der Dämmerung, dann die Dächer, die Fenster, die Menschen, und am Ende die Kühe auf den Feldern. Die Welt wird rot, als hätte sie Feuer gefangen. Das macht einem Angst, aber hier und da kommt ein Dunkelblau durch, das versucht alles zu löschen, und gleich flattert das Herz weniger."
Andrzej Stasiuk wurde Ende der Neunzigerjahre mit einer Ode an das Licht in den Beskiden bekannt, "Die Welt hinter Dukla" ist noch heute eines seiner besten Bücher. "Die weißen Nächte", 2022 auf der Longlist des International Booker Prize, ist erschienen im Verlag von Stasiuks Ehefrau Monika Sznajderman. Honek dankt am Ende ihres Buches beiden, ihm für die "wertvollen Informationen über Waldarbeit im Allgemeinen und Sägen im Besonderen" - "so hat einer meiner Helden eine schöne orangerote Säge bekommen, es hätte ja auch bei einer Axt bleiben können". JÖRG PLATH
Urszula Honek: "Die weißen Nächte". Roman in 13 Geschichten.
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2025.
165 S., geb.
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