
Besprechung vom 07.11.2025
Hundertschaft in einem Boot
Ein Buch wie ein Panoramagemälde des Lebens in den finnischen Schären: Volter Kilpis Roman "Zur Kirche"
Der Schärengürtel, der Finnland und Schweden über die Åland-Inseln verbindet, gehört zum Schönsten, was Europa landschaftlich zu bieten hat. Egal was Italien oder Österreich, die Schweiz oder Bayern glauben, an landschaftlicher Schönheit zu bieten zu haben: Die Schärenküsten der nordischen Länder sind unvergleichlich. Die schiere Menge der Inselchen und Inseln, manchmal nur ein kahler Felsen aus dem Wasser aufragend, manchmal Eilande gehöriger Art, mit dichtem Wald bewachsene und andere von Äckern und Wiesen durchzogen, ist ebenso betörend wie das nie sich wiederholende Zusammenspiel von Wasser, Luft, Himmel und vielfältig geteilter Landmasse.
In dieser Gegend wurden Kirchboote erfunden. Das sind überdimensionierte Ruderboote, und wer sich eine Vorstellung von diesen zuweilen bis zu hundert Leute fassenden maritimen Wunderdingen verschaffen will, der schaue sich einmal das sogenannte Nydam-Boot im Schleswiger Museum Schloss Gottorf an: knapp 23 Meter lang, gut drei breit, circa 340 nach Christus gebaut.
Ihren Namen verdanken die Kirchboote einem späteren Zweck: Sie sammelten die Leute in den Schären am Sonntagvormittag an den entlegensten Buchten und kleinsten Inselchen auf, um allen den Gang zur auf der Hauptinsel gelegenen Kirche zu ermöglichen. Kirchboote stammen wohl aus Finnland, waren allerdings auch in den schwedischen Schären verbreitet und sind heute noch in innerfinnischen oder innerschwedischen Seengebieten in Gebrauch, zum Beispiel im Siljan-Gebiet von Dalarna.
Im Mittelpunkt des jetzt auf Deutsch erschienenen Romans "Zur Kirche" des finnischen Schriftstellers Volter Kilpi (1874 bis 1939; der Roman wurde 1937 publiziert) steht ein riesenhaftes Kirchboot, und erzählt wird auf 510 Seiten, was an einem strahlenden Sonntag in der Mittsommerzeit irgendwann um die vorletzte Jahrhundertwende auf dem Weg zum Schiff und dann auf ihm so alles passiert. Kilpi gilt als einer der bedeutendsten Schriftsteller Finnlands; er stammt aus der Gemeinde Kustavi auf einer großen Schäreninsel vor Turku. Dort wohnten, lebten, arbeiteten sogenannte Bauernkapitäne. Das waren Leute, die Wald besaßen (und daher Holz hatten, um Schiffe zu bauen), Landwirtschaft betrieben (und daher Handelsware hatten) und alle möglichen Handwerksgewerke beherrschten, um Rohstoffe zu veredeln und an entfernten Ufern zu verkaufen, denn sie waren auf sich gestellt. Diese Gesellschaft begründete den hochwertigen Schiffsbau in Finnland und den guten Ruf finnischer Seeleute.
Kilpi lebte und dichtete tief verwurzelt in seiner Heimat; er arbeitete von 1920 an als erster Direktor der Universitätsbibliothek der finnischen Universität von Turku. Literatur in finnischer Sprache gibt es seit Ende des sechzehnten Jahrhunderts, und Kilpi gründete sein Schreiben ebenso auf neu- wie auf nationalromantische Traditionen. Letztere sind in der norwegischen und dänischen, auch schwedischen Literatur ausgeprägt in der zweiten Hälfte des neunzehnten und den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts.
In Kilpis Kirchboot Kihlakunta nehmen nach und nach exakt 97 Leute Platz. Sie sind aus allen Ecken des Schärengartens zum Bootshaus herbeispaziert, und der Schriftsteller hat die sonntäglich bunt und feierlich gekleidete Corona eingehend beschrieben. Kein neues Schürzenband und kein feierlich aufgeputztes Paar Stiefel irgendeines Knechts vom Hof Sowieso entgehen dem Beobachter des maritimen Kirchgangs. Die erste Binnenerzählung im Geschehen gilt Silja, die gerade ihre Schwangerschaft, gegründet aufs Zusammensein mit dem Sohn eines reichen Bauern, der eine Ehe zwischen ihnen garantiert nicht billigen wird, entdeckt und schwankt zwischen einer das entstehende Leben feiernden Hochstimmung und dem Bereuen unsittlichen Überschwangs. Doch aus dieser Herausgehobenheit entsteht keine Sonderstellung in der Wahrnehmung des Schriftstellers: Er malt ein riesenhaftes impressionistisch-lichtmalerisch anmutendes Großgemälde, in dem alle Kirchgängerinnen und -gänger durch sämtliche Winkel des Bildes huschen. Wer mag, kann sich ein Gemälde von Carl Larsson oder Anders Zorn als erheblich erweitertes Wimmelbild vorstellen.
Doch dabei bleibt Kilpi mit seinem Medium, der Sprache, nicht stehen. Er führt die Erzählung in die Bewusstseinstiefen und -höhen seiner Figuren, er nutzt das Mittel des inneren Monologs ebenso wie sprachliche Brechungen aller Art, um zu vollkommenen und umfassenden Schilderungen dieses Schären-Sommersonntags zu kommen. Das gelingt ihm - obwohl die Fülle der souverän beherrschten Sprache mit riesigem Wortschatz immer wieder auch ein "Und was passiert jetzt noch?" beim Leser evoziert. Was, nebenbei, auch vor Stefan Mosters Übersetzung dieser Sprachgewalt große Hochachtung notieren lässt.
Von Neo- und Nationalromantik war schon die Rede. Kilpi begeht hier auch Lebensfeiern, die nicht so weit entfernt von völkisch anmutenden Wandervogeleien und Lebens-, Natur- und Lichtanbetungen aller Art sind. Der naturreligiösen Szenerie war aber die finnische Kulturgeschichte stets - mal mehr mal weniger - verbunden. Dass von da aus Verbindungslinien bis hin ins völkische Supermarktangebot des Nationalsozialismus zu ziehen möglich ist, muss man nicht bestreiten. Allerdings bekommt man dergestalt keinen Zugang zur Sprachmächtigkeit von Volter Kilpi, den manche auch als den finnischen James Joyce bezeichnen. Egal ob es um einen Tag in Dublin oder einen auf einem Kirchboot in den finnischen Schären geht - beides kann Grund für ein großes Buch sein. Diesen Schatz gehoben zu haben, ist Verdienst des Übersetzers und von Kilpis deutschem Verlag. STEPHAN OPITZ
Volter Kilpi: "Zur Kirche". Eine Schilderung aus den Schären. Roman.
Aus dem Finnischen, hrsg. und Nachwort von Stefan Moster. Mareverlag, Hamburg 2025. 528 S., geb.
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