Dass es heute in Deutschland wieder eine jüdische Literatur gibt, ist keine Selbstverständlichkeit. Auch wenn vieles die hier versammelten Schriftstellerinnen und Schriftsteller trennt, vereint sie jüdische Sozialisierung, geistige Tradition und ein fragiles Verhältnis zur deutschen Mehrheitsgesellschaft. Am 7. Oktober ist das allen wieder aufs Deutlichste bewusst geworden. In diesem Kontext ist die Idee zu Wir schon wieder entstanden. Dana von Suffrin konnte eine Vielzahl prominenter Beiträgerinnen und Beiträger gewinnen, und so versammeln sich trotz aller Differenzen - politisch, persönlich, künstlerisch - in diesem Band 16 Schriftstellerinnen und Schriftsteller, um in Prosastücken, Erzählungen oder Essays über das zu schreiben, was sie gerade bewegt.
Mit Beiträgen von Adriana Altaras, Maxim Biller, Zelda Biller, Yevgeniy Breyger, Joe Fleisch, Marina Frenk, Lena Gorelik, Elfriede Jelinek, Dmitrij Kapitelman, Olga Mannheimer, Eva Menasse, Slata Roschal, Linda Rachel Sabiers, Dana von Suffrin, Ljudmila Ulitzkaja, Dana Vowinckel.
Besprechung vom 20.11.2024
Konfrontiert mit einer neuen Form von Verachtung
Menetekel mit Mängeln: Dana von Suffrins Sammelband "Wir schon wieder" bündelt Texte deutschsprachiger Schriftsteller zum jüdischen Leben.
Als ich die Anthologie von Dana von Suffrin mit dem schmerzhaften Titel "Wir schon wieder" zum ersten Mal aufschlug, fiel mein Auge auf die Formel von Linda Rachel Sabiers: "Die Last des Jüdischseins". In früheren Zeiten hätte man einen solchen Zufall als Epiphanie begriffen, denn Bücher hatten eine divinatorische Kraft. Diese Sicht wäre hier durchaus angebracht. Denn Sabier vermag in ihrer fulminanten Erzählung, ihr Intimleben mit der Schoa, dem Staat Israel und der jüngsten Vergangenheit zu verbinden.
Angelpunkt dieser schön komponierten Anthologie ist der 7. Oktober 2023, wie Dana von Suffrin in ihrer Einleitung klarmacht. Dabei zeigt sich die innere Zerrissenheit der heutigen Juden. Stets tritt das Unglück hervor, Jude zu sein. Laut von Suffrin: "Über Nacht sind Freunde zu Feinden geworden, Freundschaften zerbrochen, Allianzen zerschlagen, der jüdische Staat bedroht." Für Joe Fleisch kann die Katastrophe nur durch ein kaleidoskopisches Märchen dargestellt werden. Er spricht von dem "Weg in die Barbarei eines waffenstarrenden galaktischen Hightech-Mittelalters, einer Verrohung". Die Stimmen haben alle den gleichen Ton. Die jüdische Nobelpreisträgerin unter den Autoren fasst die Lage in drei Worte zusammen: "Rauch, Staub, Schutt". Ähnlich scharf zergliedert Eva Menasse das Problem. Ihr langer Wutausbruch in einer wohlüberlegten Sprache bringt das Desaster auf den Punkt: Man lebe in Deutschland "trotz und wegen der deutschen Geschichte". Zugleich höchst aktuell und historisch interessiert bietet diese Sammlung eine intelligente, von Trauer bestimmte Analyse der jüngsten Situation. Wer wissen will, was es heißt, heutzutage Jude in Deutschland zu sein, könnte mit diesem Menetekel beginnen.
Adriana Altaras zeigt in ihrer flotten Selbstanalyse, wie man heute eine deutsche Jüdin sein kann, und ich bin ihr für diese meinen Empfindungen widersprechende Darstellung dankbar, denn sie weiß, das Fremde in die Nähe zu rücken. Stets regt sich die Vergangenheit mitten in der Jetztzeit. Für Marina Frenk handelt es sich um Russland. Die russische Sprache in ihr will sie "killen", die jiddische will sie aber pflegen. Mit einem gewissen Unbehagen liest man einen solchen Entwurf. Auch Yevgeniy Breyger befasst sich mit Russland. Er beginnt sein Feuilleton mit Alexej Nawalnyj. Der sei kein Held, sondern ein Faschist gewesen. Ohne Übergang schreitet Breyger dann zu Gaza. Die Wut, mit der er seine Ansichten dem Leser entgegenschleudert, mag verständlich sein, trägt aber nicht zur Verständigung bei. Israel und Selenskyj, Lawrow und die Ukraine sind am Ende nur Versatzstücke in einem wüsten Spiel mit dem Hass. Was spricht, ist die Angst: "Ich fühle mich bedroht. Als Jude, als Ukrainer, als Deutscher, als Mensch."
Aufschlussreicher scheint mir Dmitrij Kapitelmans Erzählung "Die 13 toten Nachbarinnen". Hier steht die Erinnerung an den Holocaust schroff neben der heutigen Misere: "Meine Nachbarinnen - die Toten - wurden in den letzten Jahren mit Farben beschmiert, bekamen Hitlerbärtchen angemalt, wurden angespuckt." Mit seiner Doppelperspektive vermag dieser Text tief in den Schmerz der heutigen Juden zu blicken. Bei Lena Gorelik wird das Schicksal der Juden in Deutschland als Trauma begriffen. Ihren Text kann man nur mit Trauer lesen. Man erkennt, inwiefern diese Generation unter ihrer jüdischen Identität leidet. Ihre Bestimmung erhält sie durch den Antisemitismus. Der alte Stolz, Jüdin zu sein, scheint durch die Schoa zerstört. Dieses Defizit erläutert Maxim Biller: Heute begegne man den Juden mit "Verachtung".
Geschichte als Gegenwart ist hier wie überhaupt in diesem Buch das Hauptthema. Heimweh und Exil gehören zur trostlosen Idylle dieser Autoren. Für Elfriede Jelinek in ihrem hypomanischen Essay ist es der Dreißigjährige Krieg, der zu Gaza führt. Doch mit ihrem Urteil, dass "eine Terrororganisation keine Angehörige der menschlichen Zivilisation" sei, ist wenig getan, zumal ihr Schluss, dass heute "jedes Gegenüber" zu "Asche" zerfallen ist, dem Terror nur gar zu billig recht gibt.
Besonders treffend sind dagegen die Hinwendungen zum Heiligen Land. Die Atmosphäre des modernen Israels fängt Zelda Biller in einer strengen Novelle ein, die sich am Rande der Komik bewegt, um schließlich die Obszönität vorzuziehen. Diese Texte berufen sich vornehmlich auf die Zeitungsperspektive. Man vermisst jedoch die Einbeziehung so grundlegender Einsichten, wie sie in den Büchern des israelischen Historikers Benny Morris, etwa "The Birth of the Palestinian Refugee Problem Revisited" (2003), zu finden sind.
Wenn ich die Lage richtig verstehe, kommen in dieser Sammlung manche wichtigen Facetten jüdischen Lebens zu kurz, die Ost- und Westjuden verbanden, etwa die Selbstironie, wie man sie exemplarisch bei Kafka antrifft. Wo ist der jüdische Witz geblieben? Hat die Schoa auch den jüdischen Humor vertilgt? Zwar kommt das Lachen in Olga Mannheimers Beitrag vor, doch gibt es bei ihr selbst wenig zu lachen: Der anmutige Seder-Abend besteht für sie fast nur aus dem Essen. Was ist denn mit den Riten und Bräuchen, den Liedern und Erzählungen, dem Wein und den bitteren Kräutern geschehen, die diesem Abend seinen zeitlosen Charakter verleihen? Zu selten bedenken die Autoren den Leser. Ein fröhlicher Abend wie der Seder, den ich in Berlin mit seiner traditionellen Heiterkeit erlebt habe, verdiente eine bessere Darstellung, um das Publikum in die von Riten und Gebeten und Gesetzen bestimmte jüdische Lebenswelt einzuführen.
Ebenso missglückt ist meines Erachtens die Beschreibung jüdischer Festtage, etwa bei Dana Vowinckel. Jom Kippur und Pessach kommen bei ihr beide zu kurz. Man hat sich offenbar nicht überlegt, für wen man schreibt, und statt Aufklärung Verhunzung getrieben. Genauso wird die deutsche Perspektive verdreht. Eva Menasse beschwert sich über die Behandlung der Juden im Nachkriegsdeutschland, die sie nicht erlebte, um dann die heutige Lage zu loben: "Der Judenhass ist in der deutschen Öffentlichkeit so verpönt wie nie zuvor."
Das genaue Gegenteil scheint mir der Fall. Sechzig Jahre lang ist man Juden in Deutschland mit Takt begegnet. Heutzutage entfällt diese Vorsicht. Zu oft wird man nicht mehr als Mensch, sondern als Jude behandelt. Eine unterschwellige, zumeist unbewusste Diskriminierung findet statt, ob im Gespräch, bei einem Vortrag, in einer Diskussion. Menasses schriller Ton verdeckt die Wahrheit. Doch wie sie erkennt, geht die häufige Behauptung, dass der heutige Antisemitismus "an die schlimmsten Zeiten der deutschen Geschichte" erinnerte, wesentlich zu weit. Und bevor man Frau Merkels Bestätigung der deutschen Pflicht gegenüber Israel attackiert, sollte man vielleicht bedenken, welche staatspolitische Verantwortung die Kanzlerin dadurch bezeugte.
Der Versuch, mit dem Antisemitismus abzurechnen, trifft bei Ljudmila Ulitzkaja auf ausgesprochene Hilflosigkeit. Ihre sarkastischen "Dankesworte an die Antisemiten" zeigen, wie tief ins Mark einer Jüdin die Verfolgung getroffen hat. Ihre These, der Antisemitismus hätte das Überleben des jüdischen Volkes ermöglicht, zeigt lediglich den andauernden Schmerz, den es bedeutet, als Jüdin in der digitalen Welt zu leben. Die Sicherheit, die einst das Gebet mit sich brachte, wurde durch die Schoa bei den in der Diaspora lebenden Einzelgängern zersprengt. An ihre Stelle trat eine den Feinden ausgelieferte Existenz.
Abgeschnitten scheint man von den deutschen Juden einer früheren Generation, von Rosenzweig und Buber, von Baeck und Scholem, die so viel für das jüdische Selbstverständnis getan haben. Hier gäbe es tatsächlich Anhaltspunkte in der Krise. Ihre Bemühungen scheinen jedoch umsonst gewesen zu sein. Und doch: Wer sich über die eher tragische Lage der Juden im heutigen Deutschland ein Bild machen will, wird von dieser vielseitigen Veröffentlichung reichlich belohnt. JEREMY ADLER
Dana von Suffrin (Hrsg.): "Wir schon wieder". 16 jüdische Erzählungen.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2024. 240,- S., geb.
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