Besprechung vom 12.04.2025
Die Mär vom guten Krieg
In ihrer "Terra Ignota"-Reihe beschreibt Ada Palmer das Scheitern einer fast perfekten Weltgesellschaft
Die Technologie, die es Menschen ermöglicht, zu den Sternen zu fahren, entwickelt sich in jener Literatur, die meist aus einem unnötigen Servicegedanken heraus Science-Fiction genannt wird, häufig aus zwei Standardszenarien. Aus der Not: Die Lebensbedingungen auf der Erde haben sich derart verschlechtert, dass die Rettungsboote jetzt weltraumfähig gemacht werden müssen. Oder aus der Tugend: Die Erdengesellschaft hat sich so weit entwickelt, die Technik ist so weit fortgeschritten, dass interstellares Reisen, also vom einen Sonnensystem zum anderen, möglich wird. In beiden Fällen beginnen die wahren Probleme oft erst jenseits des Erdkreises.
Die Schriftstellerin und Historikerin Ada Palmer, die an der Universität von Chicago ihr Wissen über die frühen Phasen der europäischen Moderne teilt, beginnt ihre vierteilige "Terra Ignota"-Reihe mit dem Band "Dem Blitz zu nah" (im Original: "Too Like the Lightning", 2016) im erdverbundenen Zweifel ("Perhaps the Stars" lautet dann der Titel des letzten der vier Bände).
Zum Handlungsbeginn, im Jahr 2454, ist die Sternenfahrt noch Zukunftsmusik. Stattdessen widmet sich Palmer bis ins kleinste Detail der Überlegung, wie eine Weltgesellschaft, die eine solche Bezeichnung verdient, in 429 Jahren aussehen könnte. Diese Welt ist geschrumpft: Automatisierte Überschall-Flugtaxis sorgen dafür, dass, wer will, in Maui leben, in Myanmar arbeiten "und in Syrakus zu Mittag" essen kann. Die Begriffe Heimat und Herkunft sind dadurch von nationalstaatlichem Ballast befreit. Die letzten Kriege, die diese Welt erlebt hat, waren Kirchenkriege. Religion wird nun streng reguliert. Nationalstaaten wurden im 22. Jahrhundert zugunsten der "Hives" aufgelöst. Das sind weltweit angesiedelte Kollektive mit eigener Gesetzgebung, Regierungsstruktur, Sprache und Kleiderordnung - einzig ihre Hauptstädte sind geographisch fest zu verorten.
Dass Palmer für ihren Weltenbau auch weniger futuristisch anmutende Staatstheoretiker wie Machiavelli, Locke oder Rousseau bemüht, lässt deren Gedanken auf eine Weise konkret und lebendig werden, wie es diesen Herren selbst wohl kaum gelungen wäre. In den letzten zwei Bänden wird der Leser gewissermaßen "hobbes" genommen: Dialoge zwischen dem in Palmers Welt integrierten Erzähler (einem hochintelligenten mehrfachen Mörder) und eben Thomas Hobbes führen durch das Geschehen und beurteilen es. Und kaum je wirkt das unabsichtlich altbacken.
Wie macht man Staat? Braucht es Gott dafür? Ob man nicht von den erschaffenen Kreaturen etwas über den Erschaffer lernen könne, wird Hobbes gefragt. "Ich schreibe über den Menschen und das Gemeinwesen", antwortet er, "nicht über Theologie." Angesprochen auf den dritten und vierten Teil seines "Leviathan", die vom "christlichen Gemeinwesen" und dem "Königreich der Finsternis" (falsche Auslegung der Heiligen Schrift, "Scheinphilosophie") handeln, wird der Hobbes des Romans schmallippig: Er verzweifele längst an all jenen, die über den zweiten Teil seines Werkes hinauslesen würden.
Dabei sieht es gut aus: Jahrhunderte des Friedens, eine Zwanzig-Stunden-Arbeitswoche, eine Familie, die man sich aussuchen kann - bis auf Ersteres lässt sich zwar über Sinn und Unsinn dieser Errungenschaften streiten, doch zunächst klingt diese schöne neue Welt ganz reiz- und wundervoll, mit all dem Platz und den Anreizen, die sie für gesellschaftliches Engagement bietet.
Und sie bleibt es eine ganze Weile. Palmer nimmt sich Zeit und Zeilen, ihre Weltordnung anhand eines manchmal etwas unübersichtlichen Reigens an Figuren zu illustrieren. Verminte Themengebiete unserer Zeit spinnt Palmer in der von ihr ersonnenen Zukunft fort, um sie praktisch zu erproben. Mit allem Für und Wider: Sprache, die sämtliche Identitätsformen inkludiert (öffentlich ist jeder Erdenbürger im Jahr 2454 geschlechtsneutral, inoffiziell sind die Ansprachen gefühls- und situationsabhängig), Überwachung, Strafrecht, Glauben, Transhumanismus. Stets geht es ihr unter Zeugenschaft der jeweils zuständigen Denker um die Bruchstellen gesellschaftlicher Mitbestimmung.
Im Lichte seiner praktischen Anwendung entpuppt sich bei Palmer manch aktuelles Schreckgespenst als harmloses Spiel; wird manch harmlos erscheinendes Spiel zu bitterem Ernst. Es wären wohl nicht vier Bücher geworden, wenn dieser nahezu ideale Zustand über insgesamt 1792 Seiten (im Englischen) einfach so vor sich hin gären würden. Doch Unregelmäßigkeiten im automatisierten Verkehrssystem verdichten sich zu etwas, das die Welt im Jahr 2454 komplett verlernt hat: Krieg.
Kurz soll er sein, dieser Krieg, darin sind sich alle Parteien einig - und dank des mächtigen Kollektivs der Technomagier vom Hive "Utopia", die sich auf dem Mond lebend schon einen Schritt in Richtung Sterne bewegt und von irdischen Belangen distanziert haben, können die Bedingungen dieses Krieges vorher festgelegt werden. Utopia verfügt eine sechsmonatige Phase der Vorbereitung, in der Massenvernichtungswaffen aller Art (subsumiert unter dem Begriff "Herolde", englisch "Harbinger") unter Verschluss gehalten werden.
Vor gut dreißig Jahren hielt man die Lösung territorialer und geopolitischer Konflikte durch Gewalt und Abschreckung auch in unserer Welt schon einmal für überwunden. Dass auch ein so weitsichtig durchdachtes Sozialgefüge ausgerechnet durch Maßnahmen zu seiner Bewahrung ins Wanken gerät (weil es fragwürdige sind), rüttelt den bereits eingelullten Leser wieder wach - mit der alten Frage, wie weit man gehen darf, um ein utilitaristisches Konstrukt dieser Größenordnung zu schützen.
Und noch etwas Besonderes gelingt Palmer mit ihrer Tetralogie: Sie macht das Kontinuum sichtbar, in dem Menschen sich zu allen Zeiten darüber Gedanken machten, wie sich das Leben auf der Erde organisieren lässt - und wie man auch im Kleinen an dieser Organisation teilhaben kann, ohne die größten Fragen zu ignorieren. Wer Palmer liest, dessen Denken wird unweigerlich auf etwas gelenkt, dessen Dimension der Politik seit Längerem zu fehlen scheint: Langfristigkeit. Was auch bedeutet: Es braucht Ausdauer, die ohne schwer im Trend liegende Sofortgratifikationen auskommen muss.
Viele große Weltentwürfe sind (lapidar am Menschen) gescheitert, auch jene, die theoretisch das Wohl vieler und deren Mitbestimmung im Sinn hatten. Und selbst, wer über den Entwurf seiner Welt bestimmen kann, wie es große Erzähler tun, scheint über ihr Fortbestehen kaum frei entscheiden zu können. Ada Palmer begegnet dieser Erkenntnis nicht, indem sie je zynisch würde.
Sie schreibt (im Nachwort) davon, wie sowohl tote Philosophen als auch erdachte Figuren zwar keine "Bürgersteige reparieren" könnten und dennoch "immer noch neben uns sitzen, in den härtesten Nächten und uns helfen, sie zu überstehen". Und wenn imaginäre Welten, Figuren und die gedanklichen Konstrukte der Philosophie es vermögen, Leidenschaften zu wecken, auch Liebe, dann, so glaubt Palmer, "werden wir unsere Welt noch mehr lieben, diese Welt, die sie erschaffen hat, und die wir durch sie neugestalten."
Nicht alle in der "Terra Ignota"-Tetralogie vorgestellten Kollektive sind streng genommen demokratisch. Gleichwohl macht Ada Palmer auf fast schon radikale Weise deutlich, dass, egal an welche Regierungsform man glaubt, Transparenz, Teilhabe, aber auch ganz banal Nächstenliebe das Zusammenleben von Menschen und Gesellschaften maßgeblich bestimmen - und dass sie ihren Preis haben. Wer Ada Palmer liest, sieht sowohl die Entscheidungen von Politik in Friedenszeiten als auch im Krieg möglicherweise mit anderen Augen. Und Palmer illustriert jene simple Tatsache, die jeder hinreichend überzeugte Demokrat anerkennen muss: Es kommt auf alle an. AXEL WEIDEMANN
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