Göteborg 1926: Ein unbeschwerter Familienausflug ins Naturhistorische Museum wird zum Alptraum, als die neunjährige Alice spurlos verschwindet. Während die Familie verzweifelt nach Antworten sucht, übernimmt Hauptwachmeister Nils Gunnarsson den Fall. Doch die labyrinthartigen Gänge des Museums und seine uneimlichen Exponate bergen mehr als nur Rätsel - sie erzählen Geschichten, die besser verborgen bleiben sollten.
Unterstützt von der Journalistin Ellen, folgt Nils einer Spur aus Geheimnissen, die nicht nur das Schicksal von Alice betreffen, sondern tief mit dem Museum selbst verwoben sind.
Wird es ihnen gelingen, das Mädchen zu finden, bevor die dunklen Schatten der Vergangenheit erneut zuschlagen?
Besprechung vom 07.07.2025
Allein im Museum
Wie behaglich kann Nostalgie sein? Die schwedische Krimiautorin Marie Hermanson lässt anno 1926 ein Mädchen im Göteborger Naturkundemuseum verschwinden.
Die junge Frau vor den Schaukästen des Göteborger Naturkundemuseums hat eine lebhafte Phantasie. Schillernde Käfer in einer Schauvitrine verwandeln sich vor ihren Augen in Juwelen: "Es war, als würde sie in eine Schatzkiste schauen, voller bunter Edelsteine, Smaragde, Saphire und Rubine. Sie stellte sich vor, wie kühl die glänzenden Steine sich in der Hand anfühlten, wie sie klirrten, hart und gläsern, wenn man sie zwischen den Fingern hindurchfallen ließ."
Manchmal verläuft die junge Frau mit Namen Maj sich in ihrer Phantasie; die Gedankenwelt bietet ihr Schutz, denn ihr Leben hält wenig Schönes bereit. Als Kindermädchen einer ehemals reichen Unternehmerfamilie muss sie sich um fünf Jungen und Mädchen kümmern, die sich ungern an irgendwelche Regeln halten. Und so geschieht es, dass ihr an jenem Winternachmittag, als der Museumswärter bereits die Türen schließt, die blond gelockte Alice ausreißt und mit ihrem roten Mantel in den düsteren Gängen verschwindet.
Die Suche nach dem Kind beginnt schleppend. Die beiden Museumswärter laufen zwar die Säle ab, nachdem sie das Kindermädchen mit den anderen Kleinen nach Hause geschickt haben, aber Alice finden sie nicht. Als Wachtmeister Nils Gunnarsson den Fall auf den Tisch bekommt, muss er auf die Unterstützung seiner ehemaligen Geliebten Ellen zurückgreifen. Die hat zwar mittlerweile einen anderen geheiratet, findet am Leben als Hausfrau aber nicht so recht Gefallen - immerhin schreiben wir das Jahr 1926, und auch an Schwedens Westküste hat man schon einmal von der Idee der "Neuen Frau" gehört, die ausgeht, Alkohol trinkt und sogar raucht.
Ellen stürzt sich also nur zu gern in die Abwechslung vom Gattinnendasein und kümmert sich um die Kinder, damit Maj in Ruhe ihre Aussage vor der Polizei machen kann. Während Ellen die aufmüpfigen Kleinen durch Schneematsch in einen nahen Park schiebt, erzählt ihr der älteste Bruder von Alice, er wisse, wo die verschwundene Schwester stecke: "Ganz tief im Wald. Im Laub. Bei den Elchen."
Die schwedische Krimiautorin Marie Hermanson erzählt die Suche nach der kleinen Alice ganz klassisch: Wir folgen dem Ermittler Gunnarsson durch das verschneite Göteborg zur Befragung der Familie, bei der natürlich so einiges im Argen liegt. Der Vater ertränkt die Scham über den sozialen Abstieg nach dem Konkurs des Unternehmens im Alkohol, die Mutter entflieht der Realität mit Opiaten. Beim Gespräch mit den Museumswärtern fällt dem Ermittler ein Zeitungsausriss in die Hände, der auf eine mysteriöse Geheimorganisation hinweist. Und im Forschungstrakt des großen alten Baus treibt ein riesiger Affe sein Unwesen, der einem der Wissenschaftler gehört, die hier an seltenen Tierpräparaten arbeiten.
Hermanson verteilt genüsslich falsche Spuren, an denen Gunnarsson und die Leser entlangtappen dürfen. Bevor die Schwedin vor dreißig Jahren das erfolgreiche Debüt "Die Schmetterlingsfrau" herausbrachte, arbeitete sie als Journalistin. Manchmal meint man, den Zeitungsstil noch in ihren Formulierungen durchscheinen zu spüren. Etwa wenn es über die Atmosphäre während einer Gerichtsverhandlung heißt: "Die Luft im Saal wurde stickig. Es roch nach nasser Wolle und Sensationsgier."
Besonderes Einfühlungsvermögen aber zeigt die Autorin, wenn es um die Figur des Kindermädchens geht. Majs Fähigkeit, ihre Schützlinge mit ihrer Phantasie in andere Welten zu versetzen, malt Hermanson gleich an mehreren Stellen in schillerndsten Farben aus. Die Illusionen platzen in den grauen Alltag der jungen Frau wie Wasserbomben auf einem Sandweg: Aus ein paar Decken und Stühlen zaubert Maj eine Dschungelhöhle für die Kinder, ein Vollbad wird unter ihrer Märchenerzählerstimme zu einer Exkursion an einen Urwaldsee, aus dem Wannenhahn schäumt dann ein Wasserfall. "Maj schaute zu und lachte. Spielen zu dürfen! Das war wie Magie. Ein Wunder, das jeden Tag geschah, in jedem Kinderzimmer, auf jedem Hinterhof, in jeder Waldlichtung."
Der Grund für diese ausgeprägte Realitätsflucht liegt in Majs Vergangenheit, einem langen, einsamen Sanatoriumsaufenthalt und in der Tatsache, dass sie bereits mit vierzehn Jahren ihr eigenes Geld verdienen musste, sich um die Kinder fremder Leute kümmerte, als sie selbst noch ein Kind war. Mit solchen Seitenblicken auf soziale Missstände wandelt Hermanson auf einem Weg, den ihre Landsleute Maj Sjöwall und Per Wahlöö Mitte der Sechzigerjahre bereitet haben. Im Gegensatz zu dem linken schwedischen Schriftstellerpaar, dessen gesellschaftskritische Haltung die Grundlage für jeden Kriminalroman um den von ihnen erdachten Polizisten Martin Beck darstellte, streift Hermanson derlei harsche Realitäten aber nur zart, Kritik überlässt sie ihren Randfiguren. Da darf dann der Hausmeister des Museums, der sich die Betreuung seines kranken Sohns kaum leisten kann, wettern: "Tote Tiere und Vogeleier sind wertvoll, meine Güte. Aber mein Sohn hat offenbar überhaupt keinen Wert."
Statt des kühlen Tons von Sjöwall und Wahlöös nordischer Noir-Krimi-Reihe findet man bei Hermanson vielmehr die Wärme der Nostalgie. "Im Finsterwald" will nicht mahnen oder aufrütteln, es will in die Behaglichkeit eines herbstlichen Kaminfeuers entführen, an dem man sich vor der rauen Welt versteckt - und das klappt auch. MARIA WIESNER
Marie Hermanson: "Im Finsterwald". Kriminalroman.
Aus dem Schwedischen von Regine Elsässer.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2025.
446 S., br.
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