Melissa C. Hill hat mit "Evermind: Sie kennt dich" eine gelungene Dystopie für Jugendliche geschrieben. Sie ist aber - und das hat mich besonders gefreut - auch für Erwachsene eine spannende Lektüre.
Im Jahr 2044 wird eine KI gestartet, die das Überleben der Menschheit gewährleisten soll. Ungefähr 200 Jahre später findet das Leben der Menschen unterirdisch statt. Alles wird von der KI berechnet und geregelt. Livia - die Protagonistin und Ich-Erzählerin des Romans - ist einer dieser Menschen. Bisher hat sie die KI und deren Entscheidungen nicht infrage gestellt. Das ändert sich jedoch, als sie den von der KI vorgegebenen Job in der Krankenstation antritt und dort ihrer ehemaligen Betreuerin Mathea begegnet.
Der Roman richtet sich wie bereits erwähnt an Jugendliche. Empfohlen wird der Roman Leser*innen ab dem Altern von ca. 14 Jahren. Ich schließe mich dieser Einschätzung an.
Es gibt sehr viele Aspekte, die ich super fand: Das Worldbuilding ist meiner Meinung nach gelungen. Anfangs bekommen wir sehr viele Informationen, aber auch im weiteren Verlauf des Romans tauchen immer wieder weitere Details geliefert, die mal mehr und mal weniger subtil die unterirdische City lebendig werden lassen.
Viel wichtiger ist aber, dass die Autorin es wirklich gut schafft, ihre verschiedene Charaktere zum Leben zu erwecken. Es gibt zwar auch einige ziemlich zweidimensionale Charakter (das gilt insbesondere für die menschliche Antagonistin), es gibt aber auch sehr viele facettenreiche Menschen. Es gibt eben nicht nur gute und schlechte Menschen, sondern ganz viel dazwischen. Dass Melissa C. Hill dies in ihrem Roman so einarbeitet, trägt viel dazu bei, dass mir die verschiedenen Personen, dass Handlungsweisen meistens für mich nachvollziehbar waren. Und mir sind einige der Charaktere echt ans Herz gewachsen sind, so dass ich das Buch irgendwann nicht mehr beiseite legen konnte, weil sich so mitgefiebert habe!
Super ist die Einbindung aktueller gesellschaftlicher Verhältnisse und Entwicklungen in den Roman. Ja, sie sind teilweise dramatisch überspitzt, aber dass vieles von dem, was im Roman thematisiert wird, den Kern in unserer Gegenwart hat, macht die Kaltherzigkeit der KI nur umso nachvollziehbarer und erschütternder. Vor allem aber regt "Evermind: Sie kennt dich" zum Nachdenken an.
Es gibt viel, worüber es sich nachzudenken lohnt: In was für einer Gesellschaft möchte ich leben? Ist ein komplett berechnetes Leben tatsächlich erstrebenswert? Was macht Menschen und Menschlichkeit aus? Was ist Freiheit? Was bin ich bereit zu opfern? Diese und noch viel mehr Fragen werden auf spannende und sehr unterhaltsame Art in den Roman eingewoben.
Dass es nicht für die volle Punktzahl gereicht hat, liegt an einigen wenigen Punkten, die für mich nicht nachvollziehbar waren: das Fehlen eines autarken Notstromaggregats, um nur ein Beispiel zu nennen. Ich meine, die Menschen leben unterirdisch und unter anderem auf Luftzufuhr in mindestens drei Ebenen angewiesen. Auf Backups in Form von Notstromaggregaten zu verzichten, erscheint mir fahrlässig.
Insgesamt ist Melissa C. Hill eine großartige, spannende und teilweise herzzerreißende Dystopie gelungen, die die Grausamkeit eines Systems, das ausschließlich auf Berechnungen und Effizienz beruht, toll herausgearbeitet hat. "Evermind: Sie kennt dich" ist ein absolut empfehlenswerter Roman.