Besprechung vom 21.02.2025
Wenn weite Teile der Linken einen Rechtsruck vollziehen
Bruno Chaouat geht der Frage nach, wie die Auslegung französischer Theorie dem erstarkenden Antisemitismus Vorschub geleistet hat
In die Debatte, ob und was der neue, antirassistisch gefärbte Antisemitismus der "französischen Theorie" verdanke, hat die israelische Soziologin Eva Illouz kürzlich Öl gegossen. Die Neigung der poststrukturalistischen Theoretiker, überall strukturelle Macht zu wittern und die aufklärerische Vernunft in Grund und Boden zu kritisieren, behauptete sie, habe eine Priesterkaste geschaffen, die das Zerrbild eines westlichen, "weißen" Zionismus propagiere. Antisemitismus kann es für den neuen Klerus nicht mehr geben, weil Juden als vorgeblich Weiße zur westlichen Herrschaftsklasse gehören. Der neue Antisemitismus taucht deshalb bevorzugt im Gewand des Antirassismus auf: als Kritik am rassistischen Siedlerstaat Israel.
Die Anhänger der französischen Theorie reagieren auf solche Vorwürfe in der Regel empört und behaupten, die Kritiker hätten die entsprechenden Schriften nicht verstanden oder gar nicht erst gelesen. Von dem an der Universität Minnesota lehrenden Literaturprofessor Bruno Chaouat lässt sich das nicht behaupten. Der Schüler von Jean-François Lyotard hat sich trotz wachsender Skepsis eine grundsätzliche Offenheit bewahrt. Die Skepsis rührt daher, dass er tatsächlich einen negativen Einfluss der französischen Theorie sieht: Wie Illouz macht er sie zwar nicht direkt für das Wiederaufflammen des Antisemitismus verantwortlich, meint aber, sie habe Muster geprägt, die es begünstigten.
Nun ist der Einfluss der französischen Theorie auf postkolonial geschulte Intellektuelle, die sich am Feindbild Israel abarbeiten, zwar unverkennbar. Die manichäischen Denkmuster von, sagen wir, Edward Said oder Judith Butler können einem Jacques Derrida oder Michel Foucault aber beim besten Willen nicht angelastet werden, zumal es innerhalb der ersten Generation der französischen Theorie keine einheitliche Position zum Judentum und Israel gab. Oft handelt es sich nur um die reißbrettartige Übertragung ihrer Ideen auf politische Situationen nach einem fixen Muster, das den Geist der Dekonstruktion zuweilen sogar ins Gegenteil verkehrt. Chaouat nimmt insbesondere Derrida gegenüber solchen Fehldeutungen in Schutz. Manche Spuren hat die Gründergeneration nach seinem Urteil aber auch selbst gelegt, wie die Romantisierung des Außenseiters oder die einseitige Kritik der okzidentalen Vernunft.
Natürlich mussten diese später nicht im beschriebenen Sinn ausgetreten werden. Eine falsche Fährte erkennt Chaouat aber schon in einer in der ersten Generation verbreiteten metaphorischen Auffassung des Judentums, das von Blanchot bis Lyotard als metaphysische Chiffre für Wurzellosigkeit und Wanderschaft vereinnahmt worden sei und darüber zur körperlich leeren Abstraktion gerann, die für verschiedene Zwecke eingespannt wurde. Auf diesem Boden konnten die Verherrlichung des Diasporajudentums (als Sinnbild des Universalen) und die Verteufelung des Zionismus (als Sinnbild des Nationalen und Partikularen) gedeihen.
Als prominentes Beispiel führt Chaouat den vor zehn Jahren erschienenen Sammelband "Deconstructing Zionism" an, in dem Erben der französischen Theorie wie Gianni Vattimo, Jean-Luc Nancy oder Luce Irigaray das Vokabular der Dekonstruktion missbrauchen, um dem Judenstaat den Prozess zu machen. Israel stehe hier bar jeder Nuance für die verhasste Metaphysik der Präsenz, die Palästinenser für die Spur, das Verschwindende, die Dissemination. Mit dem linken Zionisten Derrida, dem das Buch gewidmet ist, hat das nicht mehr viel zu tun. Ungeschoren kommt aber auch er nicht davon. Chaouat hält ihm vor, in seinen politischen Tageskommentaren den neuen Antisemitismus verkannt zu haben, wenn er seine Wurzel allein in einem zwanghaft nach Zugehörigkeit strebenden Nationalismus sah und überging, dass er, wie wissenschaftliche Studien belegen, maßgeblich auch von Arabern und Muslimen gekommen oder in vornehmen Formen der Zionismuskritik aufgetreten sei (wovon nicht ideologisch motivierte Sachkritik am Zionismus zu unterscheiden ist). Von Vertretern der Nachfolgegeneration wie Alain Badiou wird der neue Antisemitismus regelmäßig unter den Teppich gekehrt, obwohl er statistisch belegt ist. Für Badiou etwa ist er nur eine Erfindung von Zionisten.
Gern greift man auf die von Edward Said in Umlauf gebrachte Behauptung zurück, die Muslime seien die neuen Juden, um die antisemitischen Ausprägungen des radikalen Islams zu verharmlosen. Damit einher geht großes Verständnis für religiös verbrämten Terror und autoritäre Regime, das auf die Annahme baut, von unterdrückten Minderheiten könne keine Gewalt ausgehen.
Auch diese Verirrungen kann man nicht aus Grundschriften französischer Theorie herauslesen. Begünstigend wirkten für Chaouat die überzogene Vernunftkritik und die Tendenz, die Realität von den Rändern und dem negativen Extrem her zu deuten, die man schon bei Foucault und später bei Giorgio Agamben antrifft. Chaouat addiert noch eine Faszination am Bösen und ein Pathos des radikalen Bruchs hinzu.
Die Neigung zu radikalen Posen führte in der ersten Generation zu manch fragwürdiger Auffassung, etwa Foucaults anfängliche Verherrlichung der iranischen Revolution oder Deleuzes Hymnen auf Jassir Arafat, aber nicht zu so hasserfüllten Analysen, wie sie Chaouat am Beispiel von Judith Butler beschreibt, die noch den schlimmsten Terror verharmlost, um ihr antiwestliches Weltbild abzustützen. Zu Recht spricht Chaouat von einem Rechtsruck weiter Teile der Linken, dem er eine für solche Verblendungen unempfängliche antitotalitäre Linke gegenüberstellt.
Chaouat verzichtet auf einen systematischen Zugang zur französischen Theorie und beschränkt sich auf einzelne Motive, deren Wirkungsgeschichte er verfolgt. Das ist eine gute Entscheidung, da sich die verschiedenen Denker nicht ohne Verluste in ein Raster spannen lassen und die Grenzen zwischen Theorie und politischen Kommentaren bisweilen unscharf sind. Sein Buch ist ausgewogen und nicht vom Willen zur Abrechnung geprägt. Berechtigt erscheint seine Frage, ob Theorie, die Grenzen auflösen und überschreiten will, als politischer Kompass taugt. Entscheidend ist, ob man im Furor der Dekonstruktion noch Sinn für den irreduziblen Gehalt des Kritisierten hatte. THOMAS THIEL
Bruno Chaouat: "Ist Theorie gut für Juden?" Das fatale Erbe französischen Denkens.
Aus dem Französischen von Christoph Hesse. Edition Tiamat, Berlin 2025. 440 S., br.
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