Die Mutter lebt in Brüssel in der großen Wohnung. Der Vater ist vor kurzem gestorben. Eine der Töchter lebt in Paris, die andere in Amerika, der Rest der Familie ist über die ganze Welt verstreut, verbunden durch das Telefon und die Toten. Eine Familie, in der man kaum miteinander spricht, außer um zu sagen, was es zum Essen geben wird, und das auch nur knapp. In ebenso sparsamen wie eindringlichen Sätzen, in intimen Beobachtungen des sich wiederholenden Laufs der Zeit wird die Geschichte einer Familie erzählt, die sich verloren hat.
Akermans in erlebter Rede entfalteter Text, der bis auf eine signifikante Ausnahme keine Namen kennt, ist in seiner unsentimentalen Radikalität und zarten Zeichnung ein Porträt des Zwischenmenschlichen überhaupt.
Besprechung vom 07.05.2025
In einer fast leeren Brüsseler Wohnung
Vom Sehen zum Erzählen: Knapp zehn Jahre nach ihrem Tod erscheint einer der Texte, in denen sich die Filmemacherin und Künstlerin Chantal Akerman ihrer Familie widmete, auf Deutsch.
Chantal Akerman hat sich im Oktober 2015 das Leben genommen. Ihr letzter Film war wenige Monate davor veröffentlicht worden: "No Home Movie", ein Porträt ihrer Mutter, in einer Wohnung in Brüssel, aber auch oft in den Videobildern einer Schaltung über Skype. Chantal, die Tochter, eine weltweit gefragte Filmemacherin, Künstlerin, Autorin, war viel unterwegs. Aber ihr Werk kreiste um diese paar Räume in Belgien, um den kleinen Horizont, auf den das Leben von Natalia Akerman geschrumpft war. Das Leben einer Frau, die Auschwitz überlebt hatte. Zweimal hat ihre Tochter sich auch literarisch über diese Beziehung geäußert. "Ma mére rit" erschien 2013 (deutsch 2022). Im selben Verlag erscheint nun auch noch, wieder übersetzt von Claudia Steinitz, "Eine Familie in Brüssel". Das zweite, kürzere Buch stammt aus dem Jahr 1998, ist aber mit dem späteren und mit dem Film "No Home Movies" wie auch mit vielen anderen Werken von Chantal Akerman vielfach verschränkt.
"Und dann sehe ich noch eine große fast leere Wohnung in Brüssel. Darin nur eine Frau oft im Morgenmantel. Eine Frau die gerade ihren Mann verloren hat." Mit diesen Sätzen beginnt Chantal Akerman. Sie ist die Erzählerin, das Sehen ist der Grundakt ihres Erzählens, aus dem Sehen kommen die Tatsachen. Der einfache Aussagesatz ist allerdings trügerisch. Denn das Sehen ist ein literarischer, schöpferischer Akt, eine Vergegenwärtigung. Schon wenig später heißt es, dass die Mutter auf eine Operation warten will, und auch, "bis ihre Tochter die in diesem Ménilmontant lebt von ihren Reisen zurückkehren wird". Diese Tochter ist Chantal Akerman, die nun auch als Objekt der Vorstellung ihrer Mutter in einem Text präsent ist, in dem sie sich ihre Mutter vorstellt.
Rund um einen Verlust
"Eine Familie in Brüssel" macht von diesen komplexen narrativen Verhältnissen wenig Aufhebens. Der Text ist auf eine diskrete Weise experimentell, von den gebräuchlichen Satzzeichen findet nur der Punkt Verwendung. Über weite Strecken geht es um die Großfamilie, die in verschiedenen Gegenden der Welt lebt - das Vernichtungswerk der Nationalsozialisten ist gescheitert, aber es verheert noch die Überlebenden in zweiter Generation. Chantal Akerman lebte damals in Paris, im Viertel Ménilmontant. In einer zentralen Passage erzählt sie von einer Fahrt nach Brüssel, ein Freund steuert das Auto. "Und es gab nichts zu erklären und er hat nicht gesagt es sei besser so und er hat nicht nach dem Alter gefragt weil man immer nach dem Alter fragt als würde das alles entschuldigen und wir haben nicht über ihn gesprochen und das war nicht vorsätzlich." Die Rede ist von ihrem Vater, der nach langer Krankheit gestorben ist.
Dieser Verlust macht die Mitte des Buches "Eine Familie in Brüssel" aus. Und es ist Prinzip, dass das erzählende Ich hier mehrfach wechselt: Mal spricht die Tochter, mal spricht die Mutter, die Übergänge sind manchmal kaum merklich. Man begreift dann erst mitten in einem Satz, dass die Tochter "die zu viel denkt" nun gerade von der Mutter gesehen wird. Dieses Motiv des "zu viel denkens" ist die deutlichste Umschreibung für die Gegenwart einer Vergangenheit, die sich jedem Andenken entzieht. Von den Erlebnissen in Polen, wo der Vater in einem Keller und auch aufgrund der Courage, einfach keinen Judenstern anzulegen, überlebte, schweigt die Mutter. Manchmal hat sie Freude an einem guten Essen, "das tut den Knochen gut", eine weitere Formulierung, die sich wiederholt, als Ausdruck für Momente, in denen Alltäglichkeit sich durchsetzt.
Der Syntax entlang
Aus dem Jahr 1974 gibt es einen Film von Chantal Akerman, der den Titel "Je, tu, il, elle" trägt. Sie spielt selbst die Hauptrolle, eine junge Frau, die ihr Begehren und ihr Verhältnis zur Welt entlang der Gesetze der Syntax entwirft: Je nach Subjekt ändern sich die Sätze. Man kann zugleich "ich" und "sie" sein. Oder hintereinander. Die erzählerische Strategie von "Eine Familie in Brüssel", das grammatikalische Ineinanderfallen der beiden Frauen, hat Parallelen in vielen Filmen von Chantal Akerman. Ihr berühmtester Film kam ein Jahr nach "Je, tu, il, elle" heraus: "Jeanne Dielman, 23, quai du commerce, Bruxelles" ist eine Übung in Objektivität. 2022 wurde die Geschichte einer Hausfrau, die sich gelegentlich prostituiert, in einer Umfrage des British Film Institute zum "besten Film aller Zeiten" gewählt. Akerman hat gelegentlich erzählt, dass sie "Jeanne Dielman" ihrer Mutter (und ihren Tanten) "ins Gesicht geworfen hat". Denn diese musste sich unweigerlich darin wiedererkennen. Nicht in den Sexual- und Gewaltakten, aber in der Lebenswelt des Films. Er spielt in einer Wohnung, die man mit der aus "Eine Familie in Brüssel" zusammendenken kann.
Ein "Home Movie" ist geläufigerweise ein Film, in dem Menschen sich selbst aufnehmen, daheim zu besonderen Anlässen, oder einfach so. Es ist nur konsequent, dass Chantal Akerman dieses Genre oder diese Form dementierte. In "No Home Movie" stellt sie die Kamera so auf, als wollte sie Bilder stehlen von einem Leben, zu dem sie keinen Zutritt hat. Zugleich sieht man sie mit der Mutter am Tisch sitzen, in tastenden Gesprächen, oder einfach bei einer Mahlzeit, die - da kann man nun wieder den Text aus dem Jahr 1998 mitdenken - "die Knochen wärmt".
Mit "Eine Familie in Brüssel" liegen nun die beiden erzählerischen Texte von Chantal Akerman auf Deutsch vor, in einer adäquaten Übersetzung. Man sollte die beiden Bücher nebeneinander lesen. Es ist schade, dass der Verlag seine Verdienste um diese beiden Texte ein wenig schmälert, indem er sie ohne jeden Kommentar oder ein Nachwort veröffentlicht. Er setzt auf die literarische Autonomie der beiden Texte, das hat durchaus seine eigene Plausibilität. Und doch ist es bedauerlich, dass man die Realien, die es zu diesem Leben zu wissen gibt, umständlich aus den lückenhaften, verstreuten Informationen zusammensetzen muss.
Seit dem Vorjahr liegen auf Französisch auch die gesammelten "gesprochenen und geschriebenen" Werke von Chantal Akerman vor. Damit ist eine Grundlage geschaffen für eine Biographie, die bisher noch aussteht. In und zwischen den Zeilen von "Eine Familie in Brüssel" steht zwar bereits alles Wesentliche. Aber er zählt zu den tröstlichen Konventionen des Lebens mit Büchern, dass man der Härte und Schönheit von Literatur mit Philologie und Quellenkunde manchmal ein wenig Wärme für die Knochen hinzufügen kann. BERT REBHANDL
Chantal Akerman: "Eine Familie in Brüssel".
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Diaphanes Verlag, Zürich 2025. 96 S., br.
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