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Besprechung vom 05.04.2025
Korrigierte Ideale
Detlef Pollack nimmt sich der Moderne an
Es mangelt aktuell nicht gerade an Büchern, die die Moderne in einer globalen Krise sehen. Viel geklagt wird über Erfahrungen des Verlusts, über Polarisierungen, Spaltungen und Abstiege, über nicht mehr einlösbare Versprechen. Der Horizont der gesellschaftlichen Möglichkeiten hat sich entsprechend verringert, und von Fortschritt ist schon gar nicht mehr die Rede. Detlef Pollack muss deshalb mit seinem Buch beweisen, dass es trotzdem noch lohnt, über diese Krise nachzudenken und die Ergebnisse mit der Forderung zu präsentieren, dass wir "trotz allem" an der Moderne und ihren Erwartungen festhalten sollten. Zumal das zunächst nicht bemerkenswert ist, denn gäbe es für einen deutschen Soziologen Alternativen dazu? Etwa die Empfehlung, sich am Autoritarismus Russlands oder Chinas zu orientieren, oder aus jüngstem Anlass dem Weg der USA zu folgen? Eher gilt wohl, dass die Europäer gar nicht anders können, als ihren Weg der "westlichen Moderne" weiterzugehen.
Das verlangt aber, sich einmal mehr bewusst zu machen, was dieser Weg war beziehungsweise wohin er geführt hat, warum er eine Erfolgsgeschichte ist und warum es sich lohnt, ihn nicht aufzugeben. Das leistet Pollack in seinem Buch auf eine sehr nüchterne Weise, die keine blinde Apologie geworden ist, sondern in historisch fundierten Kapiteln Argumente genug sammelt, um verzagten Europäern klarzumachen, was eigentlich auf dem Spiel steht. Der Titel klingt zwar nach einer geläufigen Streitschrift im aktuellen "Meinungskampf". Doch Pollack, und das hebt sein Buch heraus, empfiehlt: Weniger Aufrufe zur Stärkung von irgendetwas, weniger Warnungen vor dem Erstarken von Überzeugungen, die besser schwach bleiben sollten, und vor allem empfiehlt er weniger Moralismus, der viel Zustimmung bekommt und dann doch wenig bis nichts bewirkt.
Pollack sucht dagegen nach einem Ausweg aus der "Eskalationsspirale" und findet sie in möglichen "Agenturen der Versachlichung". Dass er dabei wenig überraschend auf die Sozialwissenschaft kommt, sollte man dem exzellenten Soziologen nicht vorwerfen. Sein zentrales Instrument der Versachlichung ist der Verzicht auf ein gängiges Beobachtungskriterium, und zwar jenes des Vergleichs zwischen der noch ganz passablen Gegenwart und einer offenen Zukunft, deren Angst machende Offenheit durch normative Erwartungen zum Besseren geschlossen werden soll. Pollack dagegen präferiert die Differenz zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Er empfiehlt: Vergesst die großen Versprechen der Moderne nicht, aber hört auf, euch damit zu quälen, dass sie nicht erreicht wurden. Stünde am Anfang der Moderne bereits ein Missbrauch menschlicher Handlungsmacht, dann müssten wir uns laut Pollack "unseres Lebens in Freiheit und Wohlstand schämen". Dann wäre die Moderne tatsächlich ein Irrtum, ein Irrweg, der auf illegitimen Grundlagen beruht und korrigiert werden müsste.
Genau dies ist aber das Anliegen von Pollacks Buch: die Moderne von diesem Vorwurf zu befreien. Seine kurze Geschichte der Neuzeit fordert allerdings dazu auf, die ursprünglichen Ideale zu korrigieren. Die Fixierung auf die "utopischen Imaginationen" der Moderne mit einem quasireligiösen Glauben an die Zwangsläufigkeit des Fortschritts könne nur zu einer "apokalyptischen Weltdeutung" führen. Doch die Moderne sei eben nicht nur fähig, unvollkommene Zustände zu verbessern, sondern auch, "die in ihr angelegten Perfektionsvorstellungen und Steigerungstendenzen im Lichte des Machbaren zu modifizieren".
Aber reicht das Licht des Machbaren, um die Düsternis der globalen Krisen aufzuhellen? Eines stellt Pollack klar: Ohne die "moderierende Wirkung wirtschaftlicher Prosperität" wird das nicht klappen. Jedenfalls nicht in einer sozialen Demokratie. Klimaaktivisten werden das anstößig finden und die Thesen dieses Buches damit als Teil des Problems einschätzen, nicht als Teil der Lösung. Doch es gibt keine einzelne Lösung, so Pollack, es wird sich keine Gesamtrationalität einstellen wie etwa die, dass alles nur noch dem Schutz des Klimas unterzuordnen sei. Die einzige Rationalität, die allen gesellschaftlichen Teilrationalitäten eignet, sei die Fähigkeit zur Selbstkorrektur. Das klingt nach wenig und verlangt nach Geduld, denn Korrekturen beanspruchen Zeit. Dass wir die noch haben, das zu beweisen ist Pollack zwar nicht in der Lage, aber das schmälert nicht den Wert seines Appells. GERALD WAGNER
Detlef Pollack: "Große Versprechen". Die westliche Moderne in Zeiten der globalen Krise.
C. H. Beck Verlag, München 2025.
191 S., geb.
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