Besprechung vom 03.02.2025
Die Stunde der Vollkommenheit
Verwirrte dürfen entscheiden: Italo Calvinos Erzählung "Der Tag eines Wahlhelfers"
Ein junger italienischer Kommunist wird im Jahr 1953 von seiner Partei zur Beobachtung der Parlamentswahlen entsandt. Einen langen grauen Sonntag verbringt Amerigo Ormea im Cottolengo, einem stadtteilhaft großen, kirchlich betriebenen Heim für geistig behinderte Menschen in Turin, das noch heute als "Stadt der Nächstenliebe" mehr als tausend Bewohner hat. In den dortigen Wahllokalen soll der Protagonist die Korrektheit des Verfahrens aus Sicht der Partei überprüfen. Italo Calvinos siebzig Seiten lange, mitunter quälende Geschichte "Der Tag eines Wahlhelfers" aus dem Jahr 1963 ("La giornata di uno scrutatore", deutsch 1964 bei Fischer) greift, wie der Autor in einer Nachbemerkung betont, ausschließlich erlebte Erfahrungen aus zwei italienischen Parlamentswahlen auf. Sie liefert eine grandiose Beschreibung der vielfachen Ungewissheiten demokratischer Praxis.
Auf der äußeren Ebene ist da der italienische Nachkriegsantagonismus zwischen Kommunismus und politischem Katholizismus, eine Welt, die älteren Deutschen verniedlicht aus den Verfilmungen von "Don Camillo und Peppone" bekannt ist. Beide Lager, so bemerkt der Held, glauben eigentlich nicht an die Demokratie, sondern entweder an den göttlichen Ratschluss oder an die Gesetze des historischen Materialismus - und doch verteidigen beide die Integrität des demokratischen Wahlakts mit größtem Eifer gegen die andere Seite und finden darin ihre Gemeinsamkeit. Denn die Zeit der politischen Illusionen, die der Sieg über den Faschismus brachte, ist schon wieder vorbei.
Unser Held lebt einmal mehr in einer Welt der "Verwaltenden und Verwalteten", in welcher der Kampf zwischen Kommunisten und Christdemokraten ein ungleicher ist. Im Cottolengo dreht sich dieser Kampf um das Wahlrecht jedes Einzelnen der in der Erzählung drastisch beschriebenen geistig eingeschränkten Menschen. Das Eintreten von katholischen Priestern, Nonnen und Pflegern für deren Selbstbestimmung ist weniger selbstloser Kampf um die politische Freiheit benachteiligter Geschöpfe als das Ausnutzen der Gelegenheit, für diese das Kreuz an der christdemokratischen Stelle zu machen. Amerigos Einsatz für eine gerechte Wahl nimmt damit umgekehrt den Ausschluss der Insassen im Zweifelsfall in Kauf.
Doch lässt die Erzählung keinerlei moralische Empörung in die eine oder andere Richtung zu. Es ist die Geschichte des jungen Dichters als politischen Menschen, die mit der Distanziertheit einer objektiven Erzählhaltung den Reflexionen des Wahlhelfers und über diese den Phänomenen auf den Grund geht. Der für seine phantastischen Romane berühmt gewordene Calvino, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits enttäuscht aus der italienischen KP ausgetreten, greift hier auf seine neorealistischen Anfänge zurück, wenn er die Atmosphäre im Cottolengo minutiös beschreibt. Von der liebevollen Schilderung der Wahlutensilien schneidet der Text dann aber blitzschnell zu den metaphysischen Reflexionen seines Protagonisten. (Täuscht der Eindruck, dass Calvino ein noch größerer Schriftsteller hätte werden können, wenn er dieses Nebeneinander von plastischer Milieuschilderung und spekulativer Phantasie weiterentwickelt und nicht nach einer Seite aufgelöst hätte?)
In der Geschichte wie im durch sie beschriebenen Wahlvorgang geht nichts nahtlos im anderen auf. Amerigos Reflexionen driften vom Zustand der Bewohner und der Sinnhaftigkeit seiner eigenen politischen Mission hin zur Schwangerschaft seiner Freundin, der er gut kommunistisch das Lob der gelungenen Empfängnisverhütung entgegensetzt, bevor ihn der Anblick eines alten Bauern am Krankenbett von dessen Sohn in Zweifel an seinen Zweifeln an der eigenen Vaterschaft stürzt. Allmählich, so scheint es, dreht die nicht eben anziehend geschilderte Anstalt den Kommunisten um. Ganz am Ende taucht sogar eine Figur auf, die alles zu versöhnen scheint. Der kommunistische Idealtyp des stolzen Arbeiters tritt ins Wahllokal, doch verdankt er seine Fähigkeiten wie sein Selbstbewusstsein der katholischen Anstalt, in der er sein ganzes Leben verbracht hat: "Ohne die Schwestern wäre ich nichts. So kann ich alles." Für einen Moment fügt sich etwas. In der Schönheit der Abenddämmerung wird das Haus, unter dessen ästhetischer Tristesse Amerigo noch mehr gelitten haben dürfte als unter seiner politischen Depression, zu einem ansehnlichen Ort, der an Rom oder gar an das himmlische Jerusalem erinnert: "Auch die allerletzte unter den Stätten der Unvollkommenheit hat ihre Stunde der Vollkommenheit, dachte der Wahlhelfer, die Stunde da eine jede Stadt die Stadt ist."
Trotz dieses Endes verweigert sich diese dichte Beschreibung eines politischen Akts der Versuchung, das gestiftete Knäuel aus Gefühl und Reflexion, Öffentlichem und Privatem, Religion und Politik, grauem Alltag und politischer Hoffnung zu entwirren. Ganz im Gegenteil gibt diese Wirrnis der Geschichte ihren Gehalt, in der die Verwirrten aus der Anstalt am Ende als Normalfall der Angehörigen des demokratischen Subjekts durchgehen könnten. Wer nach einer rationalen Rechtfertigung der Demokratie sucht, wird sie in Italo Calvinos Erzählung nicht finden. Eher schon den Verdacht, dass eine solche Rechtfertigung für eine demokratische Praxis weder notwendig noch hinreichend ist. CHRISTOPH MÖLLERS
Der Autor lehrt Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität zu Berlin.
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