Wir können alles sein ist ein leiser, eindringlicher Roman über die vorsichtige Annäherung zweier Frauen, und darüber, was es bedeutet, sich selbst und anderen zu erlauben, mehr zu sein, als bisher gedacht. Die Geschichte überzeugt durch ihre Feinfühligkeit. Sie erzählt von emotionaler Nähe, Unsicherheit, Begehren und gesellschaftlichen Grenzen, ohne ins Klischeehafte abzurutschen. Stattdessen entfaltet sich ein authentisches, fein nuanciertes Porträt zweier Menschen, die sich tastend begegnen. Besonders gelungen ist die Darstellung der inneren Konflikte einer der Protagonistinnen, die bisher nur heterosexuelle Beziehungen geführt hat. Ihre Gedanken über Nähe zwischen Frauen sind nachvollziehbar, vielschichtig und ehrlich, nie plakativ, sondern tief menschlich.
Die Sprache ist an den richtigen Stellen poetisch, ohne je kitschig zu werden. Sie trifft leise Töne, bleibt aber im Gedächtnis. Die erotischen Gedanken sind zärtlich, sinnlich und respektvoll, keine billige Effekthascherei, sondern glaubwürdige Intimität.
Queere Romane sind nach wie vor unterrepräsentiert, vor allem solche, die mit echter Tiefe erzählen und nicht nur von außen auf das Thema schauen. Wir können alles sein gehört zu den Ausnahmen. Ich wünsche sich mehr davon, auch gerade von Johanna Kramer, mehr Geschichten wie diese, mehr weibliche Perspektiven, mehr Wahrhaftigkeit.
Ein empfehlenswertes Buch für alle, die sich für leise Literatur interessieren, die trotzdem viel sagt. Und für alle, die sich danach sehnen, zwischen den Zeilen gesehen zu werden.