Kennt ihr das, wenn ein zu viel das Interesse schmälert?
So ging es mir in Hello Stranger aber von vorn
Acht Jahre ist es her, seitdem sich Sadie gegen ein Medizinstudium und somit gegen ihren Vater entschieden und den Weg einer Künstlerin jenen, den auch ihre Mutter einst mit Leidenschaft ging eingeschlagen hat. Mittlerweile hält sich die junge Frau mit Porträtmalerei und dem Geplänkel mit ihrer besten Freundin gerade so über Wasser, vermeidet peinlich genau jeden nicht notwendigen Kontakt mit ihrer Familie und versucht ihr Glück regelmäßig bei verschiedenen Talentwettbewerben erfolglos. Bis jetzt. Denn nun hat es Sadie Montgomery endlich geschafft und zählt zu den 20 FinalistInnen des prestigeträchtigsten Porträtwettbewerbs des ganzen Landes. Ihre große Chance! In sechs Wochen muss sie ein Kunstwerk einreichen, dass das Beste ist, was je aus ihrem Pinsel floss
Doch binnen eines Wimpernschlags ändert sich das Leben der Endzwanzigerin auf drastische Weise und plötzlich ist alles Talent nicht genug
Hello Stranger beschäftigt sich mit der »erworbenen apperzeptiven Prosopagnosie« mit einer Erkrankung, von der ungefähr 2 Prozent der Weltbevölkerung betroffen sind und die bekannter ist unter Gesichtsblindheit. Dies war auch der Grund, wieso ich den Roman von Katherine Center unbedingt lesen wollte.
Erzählt wird einzig aus der Sicht von Sadie, sodass wir nicht nur Teil von ihrer gegenwärtigen Überforderung, der Verzweiflung und ihrer Angst sind, der mit jedem Tag weiter schwindenden Hoffnung auf eine (schnelle) Genesung, sondern auch innerhalb des Verlaufs etliche Informationen aus ihrer einsamen, von Trauer durchzogenen Vergangenheit zusammentragen können. Dass der anstehende Wettbewerb für die Zukunft der Protagonistin ihre finanzielle Unabhängigkeit und ihre Karriere ungemein wichtig, sie jedoch nicht mehr in der Lage ist, Porträts zu schaffen, erhöht Sadies inneren Druck. Jeder Schritt außerhalb ihrer Wohnung tief erschrocken von Fragmenten, wo einst Mimik war, Sicherheit, Orientierung wird von Gefühlen der Ohnmacht und Unsicherheit begleitet, bringt die Künstlerin an emotionale Grenzen. Und genau jetzt, als Sadie am verletzlichsten ist, sucht sie das Unheil ihrer Jugendjahre heim. Zudem kratzt der zwielichtige Nachbarstyp an ihren Nerven, Peanut braucht dringend Hilfe und Sue? Die steckt in einem ganz eigenen Abenteuer
War der Beginn vielversprechend, aufgrund des lockeren Stils, etlicher herzerwärmender, skurriler Momente und der mitschwingenden (Selbst-)Ironie unterhaltsam, Sadies Beeinträchtigung interessant, verlor sich die anfängliche Euphorie in vielerlei Hinsicht stetig. Denn nach und nach kommt so einiges zusammen, dass die Gesichtsblindheit und den Umgang mit dieser kontinuierlich in den Hintergrund drängt.
Sadie, auf ihre Art durchaus sympathisch, rebellisch und darauf geeicht, mit Humor auf Niederlagen zu reagieren, verliert mehrfach binnen zwei Sätzen jeden frischen Tatendrang und neuerlichen Schub Selbstbewusstsein. Nur, um sich in etlichen, schier endlosen, irrelevanten Monologen und (wiederholenden) Überlegungen zu verlieren. Dieser Umstand ging mir ebenso rasch auf die Nerven wie die Masse an Konflikten und Missverständnissen. Ein Schritt vor, drei zurück und das in einer Tour.
Seiten überblättern, ohne etwas zu verpassen? Ist hier problemlos und oft möglich.
Den Fokus verlieren, weil ein Gedankenstrom auf den nächsten, ein Drama auf das andere folgt? Ja! Einfach ja.
Parkers Sticheleien und Auftritte sollten vermutlich als Spannungskomponente fungieren, waren aber unnötig und too much.
Das distanzierte Vater-Tochter-Verhältnis erhielt zwar eine Basis, das klärende Gespräch empfand ich jedoch als zu einfach/plötzlich aber am Ende wird eben alles gut, oder?
Ebenfalls weist der Plot Schwächen und Unstimmigkeiten auf. Ob dies auch der Fall gewesen wäre, wenn sich die Autorin auf eine gute Ausarbeitung von nur ein, zwei Punkten konzentriert hätte?
Aber es gab auch Positives:
Die romantische Entwicklung bspw.: Vorhersehbar? Auf jeden Fall. Amüsant? Definitiv. Gerade die ernsten Gespräche und der spritzige Schlagabtausch mit Joe sorgten für einige Schmunzler. Das sich verändernde Verhältnis zwischen ihm und Sadie war insgesamt schön zu verfolgen.
Peanut: Weil Hunde die besseren Menschen sind.
Center greift Trauer und den individuellen Umgang mit dieser authentisch auf. Manche Verluste tun auch Jahrzehnte später noch weh, und das ist vollkommen ok.
Der medizinische Aspekt wurde u. A. mithilfe von Dr. Nicole, in Kombination mit Sadies Empfindungen und den bildhaften, teilweise sehr emotionalen Schilderungen vorstellbar dargelegt.
Montgomerys Erfahrungen regen zusätzlich zum Nachdenken an: Denn wenn optische Attraktivität, die wir hauptsächlich in Gesichtern suchen, nicht erkennbar ist, müssten wir unser Gegenüber aufgrund von Taten, Können und Verhalten bewerten. Eine spannende Betrachtungsweise, oder?
Insgesamt schafft Hello Stranger ohne Frage Aufmerksamkeit für Prosopagnosie und die Sichtweise' Betroffener, bietet zeitgleich aber eine vollkommen überladene Storyline. Zwischen ausschweifenden Gedankenkreisen und etlichen Längen finden sich jedoch auch romantische Augenblicke, tiefgehende Überlegungen, Schmerz und eine an sich selbst zweifelnde Frau, die nicht bereit ist, aufzugeben allen Widrigkeiten des Lebens zum Trotz.