Göttin der Vergessenen erzählt nicht nur die Geschichte der unverstandenen Herrscherin über die Welt der Toten, sondern auch jene über die Entstehung von Helheim des Reichs, vor dem sich am Ende selbst die Asen zu verneigen wissen.
Schon mit der ,Greek Goddesses'-Trilogie konnte mich Lucia Herbst von ihrem Talent, mythische Überlieferungen modern zu interpretieren, überzeugen. So finden wir auch in ihrem neuen Roman eine beeindruckende Menge an Recherche, die die nordischen Sagen authentisch aufgreift, kombiniert mit künstlerischer Freiheit.
Abgeschottet und unter den wachsamen Augen von Angrboda wuchs Hellia mit ihren Brüdern Fenrir und Jörmungandr versteckt in Jötunheim auf. Nur selten ließ sich ihr Vater, Loki, blicken, doch bereitete er seine Kinder stets spielerisch auf das vor, was sie außerhalb des Berges erwarten würde. Erst das Wissen um die Gefahr weckte die Vernunft in der Jüngsten, bis eine Täuschung der Asen, die bereits zu nah waren, ihr Dasein und das ihrer tierischen Geschwister für immer veränderte
Gefangen genommen und vorgeführt, voneinander getrennt und weggesperrt eine Zukunft, schlimmer als der Tod, den die Unterstützung von Balder und ein mysteriöser Pakt zwischen dem selbsternannten Allvater und dem Täuscher Loki abgewendet haben. Doch Hellia schwört von dem Verrat ihres Vaters, der Feigheit und dem Unrecht der Asen schockiert, von der Verbannung aus Asgard gezeichnet und den Worten der Nornen, der Sehnsucht nach ihrer Familie getrieben Rache. Und wird nicht ruhen, bis sie diese und ihre Brüder bekommen hat
Auf ihrem beschwerlichen Weg durch die Welten, an Ymirs Wurzeln, seinem Wesen entlang, geführt von einem Freund, der sie in tiefster Not fand, Richtung Wissen und Macht, streift Hellia ihr altes Sein ab, wird zu Hel, zu einer Göttin, die nicht vergisst und so viel mehr ist als das nordische Oberhaupt und seine Getreuen je sein könnten
Hel ist ein gleichermaßen faszinierender wie bewegender Roman, bringt uns Lucia Herbst nicht nur Wachsen und Erkennen ihrer Protagonistin nah, sondern ruft uns auch in Erinnerung, dass wir im Jetzt leben müssen wir nur aus der Vergangenheit lernen können, während die Zukunft nie mehr als eine sich wandelnde Ahnung bleibt. Dass unser Schicksal bei uns liegt, mit jeder unserer Entscheidungen beschlossen, jedoch nicht von Prophezeiungen und Ängsten vorgegeben wird. Dass Wissen und Macht aus derselben Quelle fließen; Antworten kommen, wenn wir bereit für die richtigen Fragen sind, und wir ohne die Natur und die Umwelt, die alles vereint und speist, nichts wären. Dass jedeR vergänglich, nur der Tod für die Ewigkeit ist.
Herbst führt uns in einem klaren, unkomplizierten Ton durch die lebendige, von Dunkelheit und Bedrohungen ummantelte Handlung. Hel verändert sich im Angesicht von Hürden und Erkenntnissen, erstarkt im Inneren, lernt, verschiebt, unter der wachsenden To-do-Liste und ihrer Bestimmung, die langsam, aber stetig Kontur bekommt, ihre Ziele. Gab es auch einige Kapitel im seichten Slow-Modus, war doch kein (Um)Weg, den Hel geht, keine Begegnung, kein Gespräch vergeudete Zeit. Die Riesin wird achtsamer und aufmerksamer, demütig und ehrfürchtig im Angesicht des Großen Ganzen, und sieht Wahrheiten, vor denen sich die Mächtigen verschließen, sieht Unrecht, dass Odin und seine Schergen ignorieren.
Immer wieder warten Spannungsspitzen und temporeiche Ereignisse, Rückschritte und Stillstand gaben der Erzählung genauso viel Authentizität wie Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Wut, wie Hels Wunsch, aufzugeben und alles niederzubrennen. In Kombination mit detailreich ausgearbeiteten Welten, tieferen Themen, verschiedenen Schicksalen und neuen FreundInnen, die sich der Flüchtigen anschließen, wurde angenehm für Abwechslung gesorgt.
Vor allem der Bezug zur nordischen Mythologie und zu den Wesen- sowie Gottheiten sorgte bei mir für anhaltendes Interesse. Die Autorin gab bekannten Figuren frische Facetten, verzichtete nicht auf göttliche Gräuel und schuf eine einnehmende, dichte Atmosphäre, in der treue Verbündete jene sind, die Zuversicht bringen.
Herzerwärmende Augenblicke, spaßige Szenen, erkenntnisreiche Gespräche, Found-Family, (Nächsten)Liebe, Female Rage und Nordic-Mythologie der neue Fantasy-Roman von Lucia Herbst kommt mit grausamen Ereignissen, überraschenden Entwicklungen und einschneidenden Offenbarungen daher, mit vielen Wahrheiten und Input zum Nachdenken. Zeitgleich finden sich eine tröstende Ruhe und die befreiende Akzeptanz des Unausweichlichen.
Göttin der Vergessenen: eine Geschichte über den Mut, den es braucht, um sich gegen Unrecht aufzulehnen, über Selbstfindung, das Leben und das Sterben.