Besprechung vom 14.11.2024
Wie reimt sich Neuss auf Joyce?
Der Dichter als Schamane und Traumdeuter: Norbert Hummelt macht in seinen Essays "Eselsohren" in die Weltliteratur
Viel zu viel Literatur behauptet heute eine Authentizität, die es gar nicht geben kann - und viel zu wenig Literatur macht uns darauf aufmerksam, wie die Fiktion uns manchmal wirklicher erscheint als die Wirklichkeit. Oder ist das nur ein Adoleszenzphänomen? Bei Freud lesen wir über den Heranwachsenden: "Anstatt zu spielen, phantasiert er jetzt. Er baut sich Luftschlösser, schafft das, was man Tagträume nennt." Arno Schmidts Überlegungen zum "Längeren Gedankenspiel" schließen daran an und sind bis heute relevant. Aber obwohl wir weiter ständig vom Genre der "Autofiktion" hören, wird es doch oft missverstanden als Autobiographie.
Da erfrischt es, von einem Dichter noch einmal vorgeführt zu bekommen, was "literarisches Leben" im Extremfall bedeuten kann: Norbert Hummelt etwa wundert sich bei einer Reise an die irische Küste südlich von Dublin zunächst, dass es dort mehrere der sogenannten "Martello Towers" gibt, wo doch im "Ulysses" von James Joyce, der diese Gegend im kollektiven Gedächtnis literarisch verewigt hat, nur von einem die Rede sei: Den Dichter irritiert die Wirklichkeit.
Die Irritation aber gebiert Ungeheuer. Plötzlich mischt sich die Erinnerung an Joyce-Lektüre mit eigenen Träumen, die neue Realität gewinnen, selbst wenn sie Jahrzehnte zurückliegen. Dann taucht mit einem Mal ein schwarzer Panther aus dem Jahr 1986 auf, der gestaltwandlerische Fähigkeiten besitzt: "Er war zwei Männer, die mich durch die Straßen von Neuss verfolgten. Er war eine schwarze Pfütze. Es war einer der filmischsten Träume, an die ich mich zu erinnern meine." Während man noch rätselt, wie sich Neuss auf Joyce reimt, nimmt der Text wahnhafte Züge an: "Vielleicht bin ich schuld an der Zerstörung der Twin Towers, weil ich mein überdeutliches, durch keinen mir bekannten Grund erklärbares Unwohlsein nicht rechtzeitig an geeigneter Stelle gemeldet habe, so wie ich vielleicht schuld bin an der Explosion der 'Challenger', weil ich meinen Traum für mich behielt."
Dies nun wollen wir nicht hoffen, und umso verständlicher wird es hier, wenn Norbert Hummelt schreibt, Träume seien nicht vermittelbar. Man könne wohl "miteinander schlafen", wenn es stimme, was die Sprache sagt, aber "miteinander träumen", das gehe nicht.
Wen das frustriert oder wer gar denkt, der Dichter sei verrückt geworden, der sollte trotzdem am Ball bleiben und Hummelts Ausführungen noch ein Stück weiter folgen. Nach Momenten der Selbstanalyse, die über C. G. Jungs "Synchronizitäten" zum Schamanismus führen, kommt er nämlich zu der literaturgeschichtlich überaus fruchtbaren Frage, wie die Dichtung seit Jahrtausenden die Tore zu den "dunklen Zonen des Wissens" zu öffnen sucht. Die Antwort führt über Papua-Neuguinea zurück nach Irland zu Yeats und schließlich zu Joyce.
Weitere Essays Hummelts aus knapp drei Jahrzehnten, die im vorliegenden Band versammelt sind, führen zu Hölderlin, Rilke, Benn, Mayröcker und anderen. Sie offenbaren, warum Artur Becker in seinem Nachwort Hummelt auch als "lyrischen Detektiv" würdigt, der besonders der "Entstehungsmotivation" auf die Spur komme. Eine Deutung Hummelts zum Gedicht "Anrufbeantworter" des jüngst verstorbenen Jürgen Becker öffnet die Tore zu dunklen Wissenszonen - und spendet Trost: "Der Anrufer verstummt vor der Maschine, er spricht nicht, er lauscht nach innen, und sein Aufzeichnungsgerät ist das Gedicht." JAN WIELE
Norbert Hummelt:
"Eselsohren". Essays zur Literatur.
Mit einem Nachwort von Artur Becker. Nimbus
Verlag, Wädenswil 2024. 268 S., br.
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