Es gibt nicht viele Bücher, die ich erst als eBook lese und dann so begeistert bin, dass ich mir zusätzlich das Taschenbuch kaufe. Aber dieser Roman hat alles, was eine richtig gute Geschichte ausmacht: zwei authentische und auf interessante Weise besondere Protagonisten, einen Schauplatz, der lebendiger Bestandteil der Story ist, kluge Dialoge mit genau dem richtigen Quantum Humor und einen sprachlichen Ausdruck, der den leisen Tönen und dem Ungesagten Raum lässt. Zugegeben, der Handlungsort für diesen Coming-of-Age-Roman, in dessen Mittelpunkt zwei Teenager stehen, hat mich zunächst überrascht. Aber warum nicht. Ich mag es, wenn deutschsprachige Romane in Deutschland spielen, hiesige Realität abbilden. Und jugendliches Leben findet eben nicht nur in Berlin oder Hamburg oder an namenlosen malerischen Orten irgendwo in Bayern statt, sondern auch in: Brunsbüttel. Dort geht Manu in die zehnte Klasse des Gymnasiums und abgesehen von der Mutter, die den größten Teil ihrer Zeit leidend im Bett verbringt, ist Manus Welt ziemlich in Ordnung - nicht zuletzt wegen den Freundschaften in der Jungs-Clique.Nach den Sommerferien kommt der fünfzehnjährige Percy in Manus Klasse. Seine Hochbegabung in Kombination mit einer schweren Schreibschwäche (Legasthenie) ist eine Herausforderung für den jungen Mann - und die Lehrkräfte, die in einem System arbeiten, das sich auf Schwächen fokussiert, statt auf Stärken. Der Schulwechsel ist Percys letzte Chance auf das Abitur. Die Begegnung mit Percy zwingt Manu, sich mit der eigenen Identität auseinanderzusetzen. Was kommt nach einer als Junge gelebten Kindheit und Jugend? Wie soll Manu die Gefühle einordnen, die in Gegenwart des schweigsamen Einzelgängers aufziehen? Sabine Nagel ist eine Autorin der leisen Töne, die auch Ungesagtes wunderbar herausarbeitet. Nach ihrem wunderbaren Roman "Weil du es bist", fand ich ihre Erzählstimme hier noch einmal gereift. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass die meisten Begegnungen zwischen Manu und Percy in der Schule oder mit schulischem Bezug stattfinden. Hier wird spürbar, dass sich die Autorin ganz genau mit dem auskennt, wovon sie erzählt. Weil sie selbst Schülerin war und weil sie heute Lehrerin ist. Ich habe etliche Young-Adult-Romane gelesen, in denen Schulgeschehen selbstverständlich zur Handlung gehört. Sehr oft hatte ich das Gefühl, dass aus eigenen (veralteten) Erinnerungen irgendwie eine Kulisse geschaffen wurde, vor der sich die Protagonisten begegnen. Da schöpft Sabine Nagel aus einem ganz anderen Fundus. Entsprechend lebendig und empathisch zeichnet sie Schüler*innen, Lehrkräfte und Unterrichtsgeschehen. Nicht alle Lehrkräfte verhalten sich Percy gegenüber gleichermaßen verständnisvoll. Ich habe es genossen, wie empathisch diese Nebenfiguren dennoch vorgestellt wurden. Der Mathelehrer mit dem Temperament einer Wanderdüne. Herrlich. Neben der Identitätsfrage und den Gefühlswallungen im Zusammenhang mit Percy muss Manu sich auch im Elternhaus abgrenzen und das Leid der Mutter als das benennen, was es ist: das Leid der Mutter. Das nicht von Manu verursacht wurde und das Manu nicht beheben kann. Auch hier mein tiefer Respekt für die gefühlvolle Ausarbeitung der psychisch kranken Mutter und des überforderten, hilflosen Vaters. Manu und Percy sind ganz besondere Charaktere, an die ich mich sicherlich noch lange erinnern werde. Von und mit ihnen habe ich bei der Lektüre viel gelernt. Über Legasthenie, über Männlich und Weiblich als die beiden Enden eines Kontinuums, über Äthiopien und die Elbmündung, das Watt und die Salzwiesen bei Brunsbüttel. Fazit: Eindeutig Lieblingsbuchpotenzial. Dieses Buch sollte Schullektüre werden. Die Geschichte von Manu und Percy sollte verfilmt werden.