»Soziale Konflikte sind nie einfach nur da, sie werden auch gesellschaftlich hergestellt: entfacht, angeheizt, getriggert.«
Von einer »Spaltung der Gesellschaft« ist immer häufiger die Rede. Auch in der Alltagswahrnehmung vieler Menschen stehen sich zunehmend unversöhnliche Lager gegenüber. So plausibel sie klingen mögen, werfen entsprechende Diagnosen doch Fragen auf: Wie weit liegen die Meinungen in der Bevölkerung wirklich auseinander? Und ist die Gesellschaft heute wirklich zerstrittener als zur Zeit der Studentenproteste oder in den frühen Neunzigern?
Nicht zuletzt weil man eine Spaltung auch herbeireden kann, tut mehr Klarheit not. Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser kartieren aufwendig die Einstellungen in vier Arenen der Ungleichheit: Armut und Reichtum; Migration; Diversität und Gender; Klimaschutz. Bei vielen großen Fragen, so der überraschende Befund, herrscht einigermaßen Konsens. Werden jedoch bestimmte Triggerpunkte berührt, verschärft sich schlagartig die Debatte: Gleichstellung ja, aber bitte keine »Gendersprache«! Umweltschutz ja, aber wer trägt die Kosten? Eine 360-Grad-Vermessung der Konflikte um alte und neue Ungleichheiten, die eine unverzichtbare Diskussionsgrundlage bietet und viele Mythen entzaubert.
Besprechung vom 13.10.2023
Die gespaltene Gesellschaft gibt es nicht
Doch manchen Streit: Drei Berliner Soziologen legen eine Analyse von Konflikten vor, an denen sich die Gemüter in Deutschland erhitzen. Sie ist ein großer Wurf.
An soziologischen Diagnosen, die eine tiefe Spaltung und Polarisierung der deutschen Gesellschaft in zwei unversöhnliche Lager beschwören, herrscht kein Mangel. Aber auch die gegenteilige Argumentation, dass es für dieses Narrativ des einen großen Konflikts zwar eine große öffentliche Nachfrage gibt, die empirischen Befunde der Sozialforschung es aber nicht stützen, sind zahlreich und vielfach publiziert worden. Die Gesellschaft ist demnach nicht gespalten, sondern eher zerklüftet - eine Landschaft vieler Konflikte, die sich an ganz unterschiedlichen Fragen entzünden. Aber ein soziologischer Atlas der deutschen Konflikte wäre noch keine Gesellschaftstheorie. Diese müsste die Konflikte aus einer verbindenden Erfahrung erklären, mit deren Hilfe man die Konfliktlandschaft erstens in ein erklärendes Schema verwandeln könnte. Und zweitens begründen könnte, warum manche Konflikte kaum wahrgenommen werden, während andere die volle öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Eine politische Konfliktsoziologie sozialer Ungleichheiten also, ergänzt durch ein sozialpsychologisches Interesse an Wahrnehmungsdifferenzen. Ungleichheiten, die ganz ungleich polarisieren: Eine Studie, die mit dieser Formel die deutsche Gesellschaft genauer und (politisch) brauchbarer darstellen könnte als die vorhandenen Gesellschaftstheorien, wäre ein großer Wurf. Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser ist das gelungen.
Die drei Berliner Soziologen stellen gleich zu Beginn ihres Buches klar, dass sie von der These einer Spaltung der deutschen Gesellschaft im Sinne der Cleavage- oder Klassen-Theorie nichts halten. Man müsste dazu von einer zunehmenden Identität der sozialen und der politischen Landkarte ausgehen, etwa in ein kosmopolitisches Oben und ein rechtskonservatives oder kommunitaristisches Unten. Die Empirie stütze diese These einer gleichzeitigen kulturellen, materiellen und politischen Polarisierung der Gesellschaft ganz eindeutig nicht. Sie tauge als "argumentativer Reibebaum", aber im Kern des Buches stehe ein tieferes Verständnis der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und ihrer sozialstrukturellen "Lagerung": Wer streitet mit wem worüber und warum in welchen Konfliktarenen?
Die Forschungsstrategie von Mau, Lux und Westheuser ist also ein Disaggregieren des angeblichen polaren Konfliktraums in viele Räume, die sie Ungleichheitsarenen nennen. Das Ergebnis lässt sich natürlich nicht so griffig erzählen wie die Spaltungsgeschichte. Dafür sind die Befunde dieser Studie zahlreicher, präziser und unerwartet. Die Lektüre des Buches hat streckenweise etwas von einem Wahlabend vor dem Fernseher: Die Prognosen der Spaltungsthese erweisen sich als falsch, es gibt vielmehr überraschende Gewinner und Verlierer, und selbst neue Mehrheiten erweisen sich als möglich.
Methodisch ist dafür nötig, sich auf bestimmte Konflikte zu konzentrieren, die für eine politische Soziologie und Gesellschaftstheorie ergiebiger sind als andere. Die Autoren ziehen dafür Ungleichheitskonflikte heran, also Auseinandersetzungen, in denen es um Soll und Haben geht, um Begünstigung und Privilegierung einiger und der Benachteiligung und Diskriminierung anderer, um Lebenschancen, Ressourcen, Rechte und Anerkennung. Wer soll gerechterweise wie viel bekommen? Wer gehört dazu, wer soll draußen bleiben? Was schulden wir den nach uns Kommenden?
Das allein für die deutsche Gesellschaft in der Kombination eigener quantitativer und qualitativer Erhebungen zu kartographieren wäre schon ein respektables Unternehmen. Gesamtpanoramen werden, wie die Autoren zu Recht bemerken, in der zersplitterten Ungleichheitsforschung schließlich kaum noch versucht. Doch wie der Titel schon verspricht, geht das Buch einen entscheidenden Schritt weiter: Was die Forschung etwa als dramatische Ungleichheit innerhalb der Gesellschaftsstruktur identifiziert, kann die Mitglieder dieser Gesellschaft völlig kaltlassen, während kleine und feine Unterschiede in anderen Ungleichheitsarenen Stürme kollektiver Entrüstung auslösen können.
Bekanntlich öffne sich die Schere zwischen Arm und Reich in der deutschen Gesellschaft immer mehr. Zwar langsam, aber stetig. Doch gerade dieser sehr reale Ungleichheitskonflikt lasse die Deutschen erstaunlich kalt, so die Verwunderung der Soziologen. Es "triggert" kaum jemanden so richtig. Ließen sich dafür typische Gründe herausarbeiten, also immer wieder vorkommende Normalitätsverstöße, Verlustbefürchtungen, Überforderungen oder Grenzverletzungen? Was geht den Deutschen an die Substanz, wann reicht es den Menschen, wann kippt eine Stimmung oder bricht eine Grunderwartung endgültig auseinander? Das analytische Werkzeug der Triggerpunkte ist neu, in Verbindung mit einer fundierten Konfliktsoziologie hat das noch niemand für den deutschen Kontext genutzt. Aber wie unübersichtlich wird das? Endet so ein Vorhaben in einem sozialpsychologischen Wimmelbild der deutschen Gereiztheit, der Launen, Beleidigungen, Empörungen, hysterischen Aufgeregtheiten und nervösen Stimmungen?
Es zählt zu den analytischen Leistungen dieses Buchs, dass die Autoren hier zu einer ordnenden Typologie von vier Triggern finden: gebrochene Egalitätserwartungen, Enttäuschungen von Normalitätserwartungen, Verletzungen von Kontrollerwartungen und Eingriffe in Autonomieerwartungen. Man könnte diese Erwartungen auch auf die Formel bringen, dass sie eigentlich den stillschweigend vorausgesetzten Gesellschaftsvertrag repräsentieren. Das Aufblitzen von Konflikten an diesen Punkten erhelle darum auch die "Gesamtkontur des gesellschaftlichen Moralgerüstes", das ansonsten im Dunkeln bliebe. Das Buch enthält viele solcher erhellenden Sätze, die die Härte der heutigen Konflikte und ihre politische Brisanz verraten. So würden die unteren Schichten mangels anderen, die noch weiter unten stünden, inzwischen nach außen treten: Insbesondere in den unteren Statuslagen würden Oben-unten-Konflikte in "ethnisierte Innen-Außen-Konflikte" umgedeutet. Was diejenigen, die da unten noch arbeiten, also triggere, seien die "faulen Arbeitslosen" und die "angeblichen Flüchtlinge". Hier zeigten sich "entscheidende Bruchstellen der kollektiven Solidarität". Aber auch hier finden die Autoren dann wieder eine überraschende Koalition: Denn wer stimme eher der Aussage zu, dass Armut in erster Linie eine Frage der Leistungsbereitschaft ist? Die Arbeitgeber und die Arbeiter. Aber nicht die akademisierten Angestellten. Die neigten ohnehin eher einer "privatisierten Statussicherung" zu, soll heißen: Armut sei schon schlimm, heißt es da in der oberen Mittelschicht. Aber man selbst sei ja nicht betroffen, sondern schicke die Kinder dann eben auf die Privatschule, wenn die öffentlichen Schulen ethnisch kippten. Auch so zerfällt Gesellschaft.
Es ist Mau, Lux und Westheuser anzurechnen, dass sie ihre Studie im Unterschied zu manchem Kollegen nicht gleich zum Anlass nehmen, die neue Epoche einer "Triggergesellschaft" auszurufen. Und das, obwohl ihre "moralische Kosmologie der deutschen Gesellschaft" keinen Zweifel daran zulässt, dass in unserer Gesellschaft derzeit wohl vieles vielen viel zu weit geht. GERALD WAGNER
Steffen Mau / Thomas Lux / Linus Westheuser: "Triggerpunkte". Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 540 S., Abb., br.,
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