
Besprechung vom 13.11.2025
Auf den Prüfstand mit unseren Landkarten
Wenn man den Herkunftsort der eigenen vertriebenen Familie bereist: Der Essayband "Feuerprobe" des polnischen Dichters Tomasz Rózycki
Seit gut zwanzig Jahren gilt der Lyriker, Prosaautor und Essayist Tomasz Rózycki als eine der wichtigsten literarischen Stimmen Polens, und jedes neue Werk von ihm ist ein Beweis, dass er diesen Ruf zu Recht genießt. Gleichzeitig wird seit jenem Jahr 2004, in dem er mit dem Poem "Zwölf Stationen" (deutsch 2009) seinen literarischen Durchbruch feierte - es war eine fulminante Paraphrase von Adam Mickiewicz' Nationalepos "Pan Tadeusz" und zugleich ein herrlich ironisches Porträt der polnischen Provinz -, immer wieder deutlich sichtbar, dass das Sinnieren über die eigene Familiengeschichte ihn zu äußerst interessanten, oft ungewöhnlichen Gedanken über die Eigenart Europas führen kann. Das zeigt sich in seiner Lyrik, wie man in dem 2019 erschienenen deutschen Auswahlband seiner Gedichte nachlesen kann, und nun auch in seinem Essayband "Feuerprobe - Die trügerische Kartographie Europas", der gerade auf Deutsch herausgekommen ist.
Es ist eine Sammlung von 130 meist kurzen Skizzen, deren zentrales Motiv das Reisen ist, wobei man sich drunter beides vorstellen soll: sowohl die Fortbewegung im klassischen Sinne, meist mit der Bahn, manchmal zu Fuß, als auch ein imaginäres Herumwandern, das der Dichter immer wieder unternimmt, während er die Landkarte Europas studiert. Letzteres ist ein Reisen durch Zeit und Raum, jenseits jeglicher Grenzen, denen er ohnehin permanent misstraut - den territorialen, weil sie infolge historischer Turbulenzen entstanden und dadurch zufällig und veränderbar sind, und erst recht den Grenzen der optischen Wahrnehmung. "Mit dem Horizont ist es so", schreibt er in der Skizze, die den Band eröffnet, "dass er sich mit uns verschiebt, unaufhörlich. Er ist für uns die Grenze des Sichtkreises, des Raums, den unser Blick erfasst, und als Grenze ist er beweglich. Wir müssen nur unsere Position verändern, dann entfernt auch er sich auf sichere Distanz."
Doch die Relativität der Grenzen ist keineswegs etwas, was Rózycki irritiert oder ratlos macht, im Gegenteil, er sieht in ihr eine unerschöpfliche Inspirationsquelle. Seine Vorstellungskraft, seine Sensibilität für scheinbar unwichtige Details und nicht zuletzt sein enormes Wissen ermöglichen es ihm, mit sich und dem Leser ein besonderes Spiel zu treiben: Er knüpft sich immer wieder die Topoi, Stereotype und Mythen vor, die in unserem Denken über Europa vorherrschen, um sie infrage zu stellen, zu verändern, ihnen eine andere Bedeutung zu geben. Dabei scheint er ein besonderes Talent zu haben, vergessene Orte und Ereignisse oder Dinge zu entdecken, von denen nur eine Spur geblieben ist: unvollendete Geschichten, verbrannte Manuskripte, verlorene Kunstwerke - was ihn nicht daran hindert, einen permanenten Dialog mit unzähligen bekannten Philosophen, Künstlern und vor allem Literaten sowohl der Antike als auch der Neuzeit zu führen.
Ursprünglich habe er ein Buch geplant, das den Charakter eines Reiseführers hätte, erzählte er in einem Interview, dann aber habe er schnell festgestellt, dass alles, was er zu sagen habe, ständig in Richtung Literatur tendiere. Dass seine Art, Dinge zu sehen und zu erzählen, sich immer mit einem Buch oder einem Mythos verknüpfe, von dem es meist mehrere Versionen gebe. Er habe also begonnen, sich zu fragen, was es damit auf sich habe, dass nur bestimmte Versionen erhalten geblieben sind. Und ob uns der Verlust der anderen viel ärmer mache und inwieweit sie - würden wir sie kennen - unser heutiges Narrativ über Europa verändern würden.
Dieses Kernthema, Europa und seine Identität, ist für Rózycki, wie gesagt, eng mit seiner Herkunft verbunden. Er wurde 1970 im schlesischen Opole (Oppeln) geboren, in einer Familie, die nach Kriegsende ihr Heimatdorf bei Lemberg hatte verlassen müssen. Die neue Umgebung blieb ihr über Jahre fremd, wodurch sie umso mehr dazu neigte, ihren ursprünglichen Lebensort zu einem verlorenen Paradies zu stilisieren, was bei Rózycki selbst offenbar auch zu einem emotionalen Zwiespalt führte: Die Umgebung war ihm zwar vertraut, da zu ihr aber einerseits die Spuren der fremden deutschen Anwesenheit, andererseits die kommunistische Tristesse gehörten, machte sie ihn gleichzeitig für die nostalgische Stimmung und den Vertreibungsschmerz seiner Vorfahren sehr empfänglich.
Diese Aura, die seine Kindheit umwehte, färbt bis heute auf alles ab, was sich nach seinem Empfinden in einem Gedicht festzuhalten lohnt, und macht seine Lyrik zu einem einzigartigen Kaleidoskop von überraschenden Assoziationen, Reflexionen und Bildern. Nicht viel anders ist es mit seinen Essays: Auch hier kreiert er eine eigene Welt, die an der Schnittstelle zwischen Nähe und Fremdheit, Sehnsucht und Distanz, Bejahung und Skepsis angesiedelt ist.
Allerdings scheint er sich dabei allmählich von seiner Familiengeschichte zu distanzieren oder zumindest nicht mehr bereit zu sein, alles, was sich zu ihr zusammensetzt, als absolute Wahrheit hinzunehmen. Einen besonders deutlichen Beweis dafür liefert er in der letzten Skizze, in der er seine Reise in die heutige Ukraine beschreibt, in das Dorf, aus dem die Familie ehedem vertrieben wurde. Er hatte eine Karte dabei, die sein Onkel, ein Geodät, "mit größter Sorgfalt nach den Erinnerungen der Großeltern und Nachbarn gezeichnet hatte". Es stellte sich aber heraus, dass die Karte ihm nicht "weiterhelfen wollte - als stimme das Bild, das Zeichen, das sie war, nicht mit der Wirklichkeit überein".
Erst nach einer zufälligen Begegnung, die ihn zu einer Jugendfreundin seiner Großmutter führte, gelangte er zu der Stelle, an dem das gleich nach ihrer Vertreibung niedergebrannte Haus der Familie gestanden hatte. Doch nicht in der Tatsache, sie gefunden zu haben, sieht er den eigentlichen Gewinn, sondern in diesem Herumirren - ja, hätte er aufgrund der Karte des Onkels sofort den Ort entdeckt, sagte er in dem erwähnten Interview, hätte er dieses Buch niemals geschrieben. Denn die Suche habe die so oft gehörte Familiengeschichte um weitere Schichten ergänzt, sie vervollständigt, was ihn zu der Erkenntnis geführt habe: "Im Herumirren liege der eigentliche Geschmack des Lebens. Wenn wir umherwandern, Abenteuer erleben, Menschen begegnen, Hindernisse überwinden, wird unsere Erfahrung authentisch. Das Herumirren wird zur Wahrheit."
Etwas vom Herumirren hat auch der Stil dieser Skizzen, zumal Rózycki hier etwas Ähnliches tut wie in seinen Lyrikbänden: Er greift immer wieder auf sein Kernthema zurück und gruppiert um dieses Bilder und Motive, die einerseits assoziativ oft weit entlegen sind und andererseits in Form von häufig wiederkehrenden Bildern, Phrasen und Figuren daherkommen - was dem Band eine innere Spannung und zugleich eine spezifische Homogenität verleiht. Eine interessante Lektüre für alle, die bei aller Sorge um die Zukunft Europas immer noch neugierig sind auf das, was in dessen Vergangenheit hätte anders verlaufen können. MARTA KIJOWSKA
Tomasz Rózycki: "Feuerprobe". Die trügerische Kartographie Europas.
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann. Arco Verlag, Wuppertal 2025. 296 S., geb.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.