Besprechung vom 09.11.2024
Kein Anfang und kein Ende
Franz Dodel schreibt mit "Nicht bei Trost" an der bislang letzten Kosmologie der deutschsprachigen Lyrik
Die Herausforderung des langen Gedichts lauert im Kampf gegen die eigene Länge. So brachte es Lars Gustafsson 1968 im Literarischen Colloquium Berlin auf den Punkt. Die titelgebenden "Probleme des langen Gedichts" ging er in seinem Impulsvortrag dabei praktisch an. Anstatt sich den Kopf zu zerbrechen, ob Gedichte ihrer gattungstheoretischen Bestimmung nach überhaupt einen gewissen Umfang überschreiten dürften, dachte der schwedische Dichter lieber laut über die Schwierigkeiten beim Schreiben nach. Immerhin lauert im Innersten der lyrischen Großform ein Widerspruch, zielt sie einerseits auf hypertrophe Ausdehnung - will buchlang werden wie bei Walt Whitman -, dabei andererseits die äußerste Komprimierung des Gesagten im Vers nicht aufgeben. Ein Stresstest, den zu meistern eine ausgeklügelte Struktur erfordert. Schließlich müssen Varietät und Redundanz ins Gleichgewicht gebracht werden, will der Text die Leserschaft weder langweilen noch überfordern. Kein Langgedicht ohne durchdachtes Kompositionsprinzip, lautete Gustafssons Credo, dem Prototypen wie T. S. Eliots "The Waste Land" oder Inger Christensens kanonisches "alfabet" mit seinem Kurzschluss von ABC und Fibonacci-Folge zusätzliche Autorität verleihen.
Als Franz Dodel um die Jahrtausendwende sein fortlaufendes Endlospoem "Nicht bei Trost" begann, an dem er täglich dichtet und das inzwischen auf bald 55.000 Verse angewachsen ist, schien der Schweizer sich über die ästhetischen Parameter bereits Gedanken gemacht zu haben. Mit dem Haiku wählte Dodel eine Kurzform als Keimzelle für das große Ganze. Wobei die Silbenanzahl alternierend wechselt: Auf jede fünfsilbige Zeile folgt eine mit sieben und umgekehrt. Einem Perpetuum mobile gleich läuft so ein nie versiegender Bewusstseinsstrom stetig fort, ähnlich wie bei Dantes Terzinen aufs Engste verzahnt und doch mit gebührenden Freiheiten in der Handhabung. Satzzeichen finden sich nur spärlich, dafür alle fünfhundert Zeilen ein Zitat aus Marcel Prousts "Recherche".
In erster Linie ist es seine Offenherzigkeit, die "Nicht bei Trost" zu einem einzigartigen Projekt in der deutschsprachigen Lyriklandschaft macht. Denn es geht hier schlichtweg um alles: Natur, Kunst und Philosophie aus sämtlichen Erdteilen und Epochen, letztlich die Schöpfung in ihrer überbordenden Pracht. Matthias Kniep, der kenntnisreiche Programmleiter im lyrikspezialisierten Haus für Poesie, bemerkte in diesem Zusammenhang: "Es ist, als würde Adam Gottes Geschöpfen, die dieser an ihm vorbeiflanieren ließ, noch einmal die Namen ablesen." In Anbetracht dieser Detailfülle spielt der für die Langgedichttradition wirkmächtige Topos der Ordnungsstiftung (man denke an Ezra Pounds "Cantos") auch bei Dodel eine herausragende Rolle. Eine frühe Stelle sprach vom "Durcheinander / das dieser Text vergeblich / zu ordnen versucht".
Im nun erschienenen achten Band "Sondagen" tritt das Primat der Kontemplation noch deutlicher zutage: "weitab von jedem / bedeutsamen Tun will ich / schreibend versuchen / was mich angeht zu ordnen". Zwischen den beiden Zitaten liegen mehr als 33.000 Verse. Genügend Raum, um eine Ewigkeit zu vermessen. Raum aber auch, der gefüllt werden will. Was für den vielseitig interessierten Franz Dodel merklich mehr Glück denn Bürde bedeutet.
Der 1949 in Bern geborene Bibliothekar und promovierte Theologe ist ein aufmerksamer Leser, zudem der Musik und Fotografie sowie Land und Leuten zugetan. Er studiert die Poesie Emily Dickinsons oder deren Zeitgenossin Diane Suess, sinniert über Stillleben und durchstreift die westschweizerische Wahlheimat um Lugnorre mit der Kamera: "warmes Wasser und / der Wein ist nicht zu teuer / die Umstände sind / also günstig um sich mit / der Herstellung von Gedichten zu befassen". Im Gegensatz zur eitlen Gelehrigkeit manch anderer Mammutgedichte legt Dodel seine Quellen offen: In den Dünndruckbänden ist jede linke Seite für den exakten Nachvollzug reserviert. Manche bleiben leer, andere sind dicht gedrängt von Literaturverweisen und Illustrationen der Zürcherin Serafine Frey. Dodels ausgelegten Fährten folgt man gerne, gerade weil sie antialgorithmisch derart viel faszinierend Unbekanntes präsentieren. Auf der nach dem Dichter benannten, clever designten Homepage, wo "Nicht bei Trost" ehedem seinen Anfang nahm, lässt sich tagesaktuell der Fortschritt des Opus magnum verfolgen.
Wirklich lesen lässt sich dieses Versgebirge ausschließlich passagenweise; man steigt irgendwo ein und an einer anderen Stelle wieder aus, bis es einen zurückzieht in den Text und die Lektüre von Neuem beginnt. Die Assoziativität dieser Dichtung lässt das zu, und Dodel selbst kann sich kaum eine andere Lesart als die kursorische für "Nicht bei Trost" vorstellen. Der Titel verweist übrigens weniger auf die sprichwörtliche Verrücktheit denn auf das untröstliche Dasein, dem simple Heilsversprechen fremd sind. Die Verlorenheit in der Welt schwingt mit. Obendrein in unserer krisengeschüttelten Gegenwart, die vermehrt in den Text eindringt.
Dodel hat stets vermieden, bekennerisch daherzupalavern oder sein Gedicht zum Journal zu degradieren, das wie ein Liveticker die Schrecken der Jetztzeit dokumentiert. Doch die Corona-Pandemie und der Krieg in der Ukraine drängen sich unweigerlich in den Gedankenfluss, über ihre Schockwirkung lässt sich nicht einfach hinwegmeditieren. Manche Naturbeschreibung liest sich vor diesem Hintergrund wie ein Gleichnis: "aufgeschichtet am Rande / des Weinbergs alte / Rebstöcke ausgerissen / mangels Ertrag jetzt / liegen sie da knorrig und / qualvoll verdreht wie / hingeworfene Knochen / in einem Beinhaus".
Doch wird dies nicht das Ende sein. Als work in progress auf der vergeblichen Suche nach dem Alpha und dem Omega, gelingt Franz Dodel in "Nicht bei Trost" schlicht wunderschöne Poesie, die beispiellose Ruhe ausstrahlt und Trost spendet. Und das allen Zweifeln zum Trotz. MAXIMILIAN MENGERINGHAUS
Franz Dodel: "Nicht bei Trost - Sondagen".
Mit Illustrationen von Serafine Frey.
Edition Korrespondenzen, Wien 2024.
608 S., Abb., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.Es wurden noch keine Bewertungen abgegeben. Schreiben Sie die erste Bewertung zu "Nicht bei Trost" und helfen Sie damit anderen bei der Kaufentscheidung.