Ein langer Auszug dieses Buches erschien am 5. April in der WELT online, ich begann zu lesen und konnte bis zur letzten Zeile nicht mehr loslassen. Die Worte zogen mich magisch an. Ich bestellte das Buch und las alles noch einmal von vorn. Eine solche Poesie und Melancholie, wie in diesem Buch der französischen Autorin Clara Dupont-Monod, die habe ich selten erlebt. Leider kann ich mit meinem Schulfranzösisch nicht beurteilen, wie die Übersetzerin Sonja Finck das Original ins Deutsche brachte, aber auf jeden Fall ist sie als Schriftstellerin nicht minder begabt. Mir hat sich eine ganze Welt eröffnet. Bereits die Idee, die Steine eines cevennischen Bauernhofes die Familiengeschichte der Bewohner schildern zu lassen, ist außergewöhnlich.
Diese Geschichte beginnt, als Familiennachwuchs aus Vater, Mutter, Bruder und Schwester eine fünfköpfige Familie macht. Es wird ein Junge geboren, der Bruder ist zehn Jahre, die Schwester wohl acht. Das Brüderchen aber ist nicht wie die Geschwister, es beginnt nicht, die Dinge mit den Augen zu verfolgen, es hebt das Köpfchen nicht, es bleibt teilnahmslos an der Umwelt. Es ist blind, es ist eigentlich kaum lebensfähig, die Ärzte lassen keine Hoffnung aufkommen. Trotzdem entwickelt sich eine liebevolle Zuneigung zu diesem lebensunfähigen Brüderchen, der große Bruder wird sein Beschützer, sein Pfleger, sein Gefährte. Mit ihm und dem Brüderchen lernt der Leser den Hof, den Garten, die Umgebung, die Berge und den Bach kennen, der Leser hört das Rauschen der Bäume, die Flügelschläge der Libellen, das Knistern vertrockneter Disteln, der Leser riecht die Erde, die Blumen, das Essen, das Kind. Die Erzählung saugt den Leser an, hält ihn fest, lässt ihn jeden Schritt und jeden Gedanken des Bruders miterleben. Aber er sieht auch die Schwester, die ihren großen Bruder verloren glaubt, die sich vergessen und zurückgesetzt fühlt. In ihr sammeln sich Wut und Traurigkeit, die sie über Jahre begleiten werden.
Als das Brüderchen in der Krippe im Ort tagsüber nicht mehr betreut werden kann, suchen die Eltern verzweifelt nach einem Heim, aber nirgends wird das Kind aufgenommen. Erst Hunderte Kilometer entfernt findet sich ein christliches Heim für Schwerstbehinderte, von Nonnen werden die Kinder dort betreut. Als das Brüderchen dorthin gebracht wird, zerbricht für den großen Bruder die Welt, die Schwester aber fühlt sich erstmals befreit vom Unglück. Es wird Jahre dauern, bis der große Bruder das Brüderchen in den Ferien wieder anschaut, mit ihm spricht und mit ihm in den Wald wandert. Die Schwester wendet sich derweil immer mehr der Großmutter zu, findet dort eine Freundin und Vertraute, wie sie sonst keine hat.
Dann sterben das Brüderchen und die Großmutter, die Familie ist wieder zu viert. Ist eine Last genommen? Nein, die Last der Erinnerung bleibt, verstärkt die Charaktere von Bruder und Schwester noch mehr. Der Bruder ein Einzelgänger, der versucht, mit Mathematik und Anpassungskunst das Leben zu meistern, die Schwester immer noch wütend und auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Am Ende wird sie ihn finden, aber es dauert eine Ewigkeit.
Die Eltern jedoch beginnen ihr Leben noch einmal neu, ohne das tote Kind zu vergessen, aber ohne Zorn und ohne Wut. Es kommt ein weiterer Bruder zur Welt, da sind die großen Geschwister längst erwachsen geworden. Der Nachgeborene wird im letzten Teil des Buches zur Inkarnation des verstorbenen Brüderchens, er fühlt sich manchmal als Ersatz, manchmal aber, als hätte er ihn in sich. Der Nachgeborene ist das sensible Abbild des großen Bruders wie auch des toten Kindes. Wie ist es möglich, dass man einen Menschen, der vor der eigenen Geburt gestorben ist, vermisst, fragt er sich,
Endlich findet auch die Schwester, die zum Nachgeborenen eine zärtliche und liebevolle Beziehung hat, ihren Ruhepol, sie lebt in Portugal und verliebt sich in den Schallplattenhändler ein paar Häuser weiter. Als sie das erste Mal schwanger ist, sind alle besorgt, aber sie beantwortet später die entscheidende Frage ihres kleinen Bruders, was sie gemacht hätte, wenn das Baby behindert zur Welt gekommen wäre, mit der lakonischen Antwort, sie hätten es nicht behalten. Das versetzte mir einen Stich und doch konnte ich es verstehen. Am Ende wird sie drei kleine Mädchen habe, der kleine Bruder wird sie lieben und mit ihnen spielen und sich um sie sorgen, so wie sich der große Bruder auch immer um die Schwächeren gesorgt hat. Der Kreis schließt sich.
Dieses Buch hat mich zu vielen Gedanken und Erinnerungen gebracht, die ich längst vergessen glaubte. Ich dachte an die Euthanasie im Dritten Reich, wie Menschen wie das Brüderchen mit einem Federstrich von der Liste der Lebenden getilgt wurden. Und ich erinnere mich ganz intensiv an den Bruder meiner Freundin, der schon 40 Jahre alt war als ich ihn kennenlernte. Er war mongloid, wie man das in den 1970ern ausdrückte, aber er war der liebste und freundlichste Mensch, den man sich vorstellen kann. Er lebte bis zu seinem sechzigsten Lebensjahr in der Wohnung seiner Eltern, Berliner Altbau, vierter Stock ohne Fahrstuhl, aber mit Ofenheizung. Erst als die Eltern starben, kam er in ein Heim und verstarb dort auch bald. Was die Eltern vollbrachten, würde kein hoher Orden jemals rühmen können. Aber es kommen mir auch bittere Gedanken, die die Jetzt-Zeit betreffen, in den Kopf. Allzu oft liest man über Familien, die ein behindertes Kind haben und, wie die Eltern im Buch, endlose Kämpfe mit der Bürokratie ausfechten müssen, wenn es um Unterstützung, Medikamente, Hilfsmittel, Pflegekräfte usw. geht. Kürzlich las ich von einer Familie, die neben drei gesunden ein krankes Kind hat, das rund um die Uhr Betreuung benötigt. Zum Schluss sprachen die Eltern davon, wie froh sie seien, dass die Großen ihnen eine Hilfe und Stütze wären und dadurch die Belastung etwas gemindert sei. Ich las das, und ich dachte im gleichen Augenblick an die beschädigten Seelen der großen Geschwister des Brüderchens, an den sensiblen Nachgeborenen. Ob Eltern immer genau wissen, was sie ihren Kindern aufbürden und wie sich das auf ihr späteres Leben auswirkt? Nach der Lektüre von Brüderchen bin ich mir da nicht mehr so sicher.
Am Ende steht denn auch die Frage an mich selbst, wie hätte ich mich verhalten, wie hätte ich entschieden in einer so fatalen Lage? Auch nach Brüderchen kann ich das nicht beantworten.
Ich empfehle dieses Buch von ganzem Herzen, es überwindet die Hemmschwelle zwischen Hirn und Herz mit einer Leichtigkeit und Poesie, die das Tragische wieder ertragbar macht.