
»Danken wir den Göttern und dem Teufel für Fleur Jaeggy! « Claire-Louise Bennett
Fleur Jaeggy erzählt von Wahnsinn, Verlust und Mord, vom Fluch, eine Familie zu haben, und von der durch nichts zu vertreibenden Nähe des Todes. Dabei erschafft sie surreale Bilder, die sich in die Seele rammen, Geschichten von kristalliner Schönheit, die von einem bösartigen Zauber beseelt scheinen, champagnerfarbene Welten, die vor stiller Gewalt brodeln.
Fleur Jaeggy ist eine Poetin der Verzweiflung und eine Virtuosin des Schauers: Ihre jenseitigen Geschichten zu lesen, das ist, als würde man sich nackt und kopfüber in ein Gestrüpp aus schwarzen Rosensträuchern stürzen - am Ende kommt man blutüberströmt und geläutert wieder heraus.
Besprechung vom 06.11.2024
Gesten des Abschieds
Das Reale hat keine festen Grenzen: Fleur Jaeggys "Ich bin der Bruder von XX"
Das Werk der helvetisch-italienischen Schriftstellerin Fleur Jaeggy ist im Mailänder Verlag Adelphi erschienen, der von ihrem Ehemann, dem Autor Roberto Calasso, bis zu seinem Tod 2021 geleitet wurde und der bis heute in der europäischen Verlagslandschaft ein einzigartiges Modell literarischer Kompromisslosigkeit darstellt. Die über Jahrzehnte konsequent geformte Programmatik des Verlags lässt die Wahlverwandtschaften unter den Autoren hervortreten - im Fall von Jaeggy sind das etwa die Werke ihrer Freundin Ingeborg Bachmann, von Robert Walser, Clarice Lispector oder von Vertretern der modernen italienischen Phantastik. Dass nun der Suhrkamp Verlag das Werk der mittlerweile vierundachtzigjährigen Jaeggy, 1940 in Zürich als Tochter eines Schweizer Vaters und einer italienischen Mutter geboren, in Einzelausgaben neu herausgibt, ist ein Grund zur Freude (F.A.Z. vom 16. August 2024).
Gut kennenlernen kann man diese eigenwillige Autorin mit der Lektüre des Bandes "Ich bin der Bruder von XX", einer Sammlung von zwanzig Kurzerzählungen, erstmals ins Deutsche übersetzt von Barbara Schaden, die versiert den Ton einer lakonischen Verzweiflung trifft, einer ruhigen Gewalt. Programmatisch lässt sich das in der Titelerzählung beobachten. Der Ich-Erzähler, in eine komplizierte symbiotische Beziehung mit seiner gleichermaßen schriftstellernden Schwester verwickelt, aus einer Familie stammend, in der Kindern nicht Obst, sondern Schlaftabletten gegeben wurden, spricht hier offenbar nach seinem Selbstmord. Sein Leben war stets geprägt von einer "Bereitschaft zu verschwinden". Eine Geschichte wird nur angedeutet, stattdessen prägt sich die obsessive Aufmerksamkeit des Erzählers für scheinbar nebensächliche Details wie die Farben von Kleidungsstücken ein sowie ein anderer Blick auf die Wirklichkeit: "Alles, was ich sah, war auf den Kopf gestellt."
Obwohl alle Erzählungen diesen verfremdenden Blick und eine strenge, kontrollierte Sprache aufweisen, sind sie an den unterschiedlichsten Orten und teilweise auch Zeiten angesiedelt: in New York, Graubünden, Neapel, Auschwitz, in einem brandenburgischen Dorf. Dadurch bekommt die oft beklemmende Atmosphäre etwas Welthaltiges. Die obsessive Involviertheit der Figuren in ihre eigenen Dramen färbt die Wahnzustände und Gewaltausbrüche mit Komik. Das Reale hat keine festen Grenzen, drastische Handlungen erfolgen ohne transparentes Motiv: Eine stille Macht schlummert in Familienporträts, eine Frau namens Regula "unterhielt sich mit ihrer Tasse", ein Mann sperrt seine Frau (die Tochter von Nazis) in einen Vogelkäfig, das Waisenkind Hannelore steckt aus einem willkürlichen Zerstörungsimpuls die Wohnung seiner Gönnerin in Brand: "Das Kind betrachtete seine Gedanken an den Fensterscheiben wie blutpralle Insekten an den Wänden des Zimmers."
Neben diesen hochgespannten, oft das Mystische streifenden Erzählungen enthält der Band auch einige anekdotische Vignetten, Erinnerungen an Autoren, die Jaeggy offenbar im Rahmen der verlegerischen Arbeit ihres Mannes kennengelernt hat. Der Mann namens Joseph, der in der Erzählung "Negde" aus seinem Haus in Brooklyn in den eisigen Wintertag tritt und dabei an die Newa denkt und dessen Schreibtisch zwischen "nirgendwo" und "überall" vermittelt, ist niemand anders als Joseph Brodsky. Eine andere Erzählung ("Eine Begegnung in der Bronx") schildert einen Restaurantbesuch mit Oliver Sacks. Während "Oliver und Roberto" sich unterhalten, studiert die Erzählerin die anderen Gäste, und schließlich widmet sie all ihre Aufmerksamkeit einem bald zum Verzehr fälligen Fisch im Aquarium. In dessen Blick erkennt sie Intelligenz und Liebe: "Ich verlasse das Restaurant, nachdem ich mich von ihm verabschiedet habe."
Ein weiterer Text ("Das aseptische Zimmer") erinnert auf kleinstem Raum an ein Gespräch mit Ingeborg Bachmann über das Altern und die Zukunft. Zunächst sitzt "Ingeborg" während der Unterhaltung auf einem Biedermeiersofa, dann plötzlich besucht die Erzählerin sie in der römischen Klinik Sant'Eugenio, in der Abteilung für schwere Brandverletzungen.
Unter den Erzählungen dieses Bandes gibt es eine "Katze", die sich auch als eine Poetik für Jaeggys Schreibweise anbietet. Die Beobachtung einer Katze, die schnell nach einem Objekt, etwa einem Schmetterling, hascht und dann plötzlich die Lust verliert, wird mit dem aus der Verhaltensforschung kommenden Begriff der Übersprunghandlung belegt, als eigensinniger Genuss, delectatio morosa: "Man wendet sich anderswohin, geht zu anderem über, zeigt sich unbeteiligt, macht die Geste des Abschieds. Das Abschweifen vom Thema, die Flucht vor einem Wort und zugleich die Jagd nach Worten, die Befreiung von ihnen: alles mentale Wege des Schreibens." "Ich bin der Bruder von XX" versammelt sprachlich konzise, eindrückliche Gesten des Abschieds. JOBST WELGE
Fleur Jaeggy: "Ich bin der Bruder von XX".
Erzählungen.
Aus dem Italienischen von Barbara Schaden. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
114 S., geb.
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